„Zusammen streamen statt zusammenströmen“ lautete das Motto der diesjährigen Diagonale, die als eines der ersten Filmfestivals online über die Bühne ging. Nun bringt Crossing Europe einen cineastischen Streifzug quer durch Europa auf die Bildschirme der Wohnzimmer. Das Ars Electronica Center bietet einen interaktiven digitalen Lieferservice, der Ausstellungstouren, Workshops, Vorträge und Konzerte umfasst.
Die Corona-Krise katapultiert auch die Kultur in virtuelle Welten. Und illustriert überdeutlich, wie stark unser Alltag bereits von einer Melange aus On- und Offline-Wirklichkeiten geprägt ist, die untrennbar miteinander verwoben sind, einander bedingen. Diese Digitalisierung mit dem Vorschlaghammer mündet in ein großes Reallabor, in dem Experimente mit enormer Spannweite in situ in der Gesellschaft gewagt werden.
Mit Hilfe von digitalen Werkzeugen entstehen innovative Vermittlungsansätze, die es erlauben, neue Zielgruppen zu erschließen und Hemmschwellen abzubauen – vieles davon wird die Krise überdauern. Die Pandemie löst einen Lernprozess darüber aus, welche Angebote im Netz funktionieren und welche nicht, und generiert bei vielen die Erkenntnis, dass wir schon längst in der real-digitalen Sphäre leben, wo es kein Entweder-oder zwischen dem Realen und dem Digitalen gibt, sondern der Schlüssel des Erfolgs in einer hybriden und klugen Verbindung von beidem liegt.
Das Realexperiment in der Ära von COVID-19 manifestiert aber auch den Wert von Kunst und Kultur als Instrument der Reflexion.
Der globale Lockdown zeigt die Wichtigkeit und die Kraft von Kreativität – also der einzigen menschlichen Gabe, die es erlaubt, uns in unvorhersehbaren Situationen zurechtzufinden.
Im Reallabor zur Abwehr des Coronavirus werden einst als undenkbar gehandelte Maßnahmen Realität, die einen Eingriff in unsere Grundrechte darstellen. Sie verlangen nach kritischen Stimmen, um vielschichtige Diskurse anzuregen und der Allgemeinheit einen Spiegel vorzuhalten. In alledem liegt die Stärke der Kunst, sie provoziert eine Perspektivenverschiebung, emotional, intellektuell oder ästhetisch. Geänderte Blickwinkel und Betrachtungsweisen eröffnen neue Erkenntnisse. Sie sind ein wesentlicher Nährboden für Kreativität, kritische Reflexion oder Kurskorrekturen.
Doch während die Wissenschaft gerade vor den Vorhang geholt wird und Virolog*innen, Mediziner*innen oder Mathematiker*innen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, findet Kultur plötzlich im stillen Kämmerlein statt. Die sozialen, ökonomischen, politischen und ethischen Fragen, die COVID-19 aufwirft, bedürfen jedoch transdisziplinärer Ansätze an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft. Der Bruch mit traditionellen Sehgewohnheiten, die Erweiterung des methodischen Erfahrungshorizonts und der spartenübergreifende Erkenntnisgewinn entsprechen der Multidimensionalität unserer vernetzten Welt und den Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Nicht zuletzt dokumentiert auch der Blick in die Geschichte ein Oszillieren zwischen Kunst, Kultur, Wissenschaft und Technologie als Innovationstreiber der Menschheit.
Umso entscheidender ist es, die existenzielle wirtschaftliche Katastrophe für den Kulturbetrieb zu verhindern und die Kunst als geistige Grundlage unserer Gesellschaft vor dem Aussterben zu bewahren. Schließlich offenbart der Ausnahmezustand: Der vorübergehende Verzicht auf kulturelle Öffentlichkeit bedeutet einen nie dagewesenen Verlust an Lebensqualität, Inspiration und Kontemplation. Die aktuelle Situation führt uns eindringlich vor Augen, dass die Kulturlandschaft kein dekorativer Luxus ist, mit dem man sich nur in guten Zeiten schmückt, sondern kollektiver Kitt und ein unentbehrliches Korrektiv in der Krise.
CHRISTOPHER LINDINGER beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit neuen Technologien, Innovationskulturen und Kooperationsformen für Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Er forschte in Chicago zu Supercomputer-Visualisierungen, entwickelte Software für NASA, NCSA und war Forschungsdirektor des Ars Electronica Futurelabs. Seit 2019 ist er JKU-Vizerektor für Innovation und Forscher*innen.