Stellen Sie sich vor, Sie könnten einen Menschen ganz genau untersuchen – einen Blick unter die Haut werfen, Muskeln freilegen, sich die Knochen ansehen. Und jetzt stellen Sie sich vor, die Person, die Sie da gerade untersuchen, ist nicht einmal tot. Unmöglich? Willkommen im JKU medSPACE.
Der Raum ist dunkel, vor uns auf der 14x8 Meter großen Stirnwand sieht man die Projektion eines schwarzen Computerbildschirms, über den ein Mauszeiger huscht. So weit, so normal vor einer Vorlesung im Zeitalter von Hightech.
Das ohnehin sehr gedämpfte Gemurmel der Medizinstudent*innen ebbt ab, als alle ihre Spezialbrille aufsetzen. Wir fühlen uns wie im Kino, möchten nach der Popcornschüssel greifen. Doch urplötzlich erscheint auf der Wand ein bunter Kopf, der sich in den Raum hineinstreckt und uns zunickt. Unwillkürlich zucken manche zurück, so nah kommt einem die Nase.
Klar, man weiß ja eigentlich, dass das nur ein 3D-Bild ist. Dass jetzt die Anatomievorlesung begonnen hat. Aber man möchte die Hände ausstrecken, diesen bunten Kopf umfassen. Nicht zärtlich, denn schön, nun ja, das ist er nicht so wirklich mit seinen grellen Regenbogenfarben. Aber faszinierend. Und ästhetisch.
Die Begrüßung von Franz Fellner, Radiologie-Professor und Anatomielehrer an der Medizinischen Fakultät der Kepler Universität Linz, holt uns alle schnell in die Realität zurück. Und zwar rasant. Ein kleiner grüner Pfeil flitzt über den Kopf, kreist um die Lippen. „Was haben wir denn hier?“, fragt der Professor in die Rund e. „Genau, den Musculus orbicularis oris. Und hier?“ Der Pfeil gleitet leicht seitwärts. „Na? So ist es, den Musculus masseter, unseren starken Kaumuskel.“ Es geht Schlag auf Schlag, besser gesagt Muskel um Muskel weiter.
Mit einer kleinen handlichen Konsol e kann Professor Fellner den Kopf um mehrere Achsen kippen und drehen, während der echte Mensch durch den Raum und dabei auch mal, sozusagen aus Versehen, durch den virtuellen Kopf läuft. Wir, obwohl fest auf unseren harten Stühlen sitzend, haben das Gefühl, um dieses fast mannshohe Gebilde herumzugehen.
Mit einem Klick gehen wir dann gleichsam in den Kopf hinein. Der Kopf wirkt einmal glatt von oben nach unten abgeschnitten. Ihm fehlen nun die Nase und auch ein kleiner Teil der Strukturen dahinter. Das Kinogefühl ist weitgehend verflogen, hat der sachlichen Anatomie Platz gemacht. Wir sehen nun die erwähnten Muskelstränge und wie sie übereinander-, nebeneinanderliegen. Wie sie sich umgarnen, fast miteinander verflechten. Der eine taucht unter den anderen ab. Bahnen unseres Lebens, denkt man.
Nach ein paar weiteren Klicks und somit weiteren Schnitten Richtung Hinterkopf taucht der eine oder andere Strang wieder auf. Neue Muskelsträng e mit neuen Namen werden sichtbar. Und auch weitere Elemente wie die Ohrspeicheldrüse oder die Unterzungenspeicheldrüse. Manchmal werden neben dem 3D-Bild zum Vergleich CT oder MRI-Bilder eingeblendet. Auch informativ, aber vergleichsweise grau und platt. Alltag statt Kinofilm.
Nach einem Parforceritt vom Mund bis in den Schlund wird aus Graz der dortige Anatomie-Professor Niels Hammer aus dem Pathologiesaal in den JKU medSPACE zugeschaltet. Wir sehen nun den dortigen Pathologiesaal. Auf einem der Edelstahltische liegt eine präparierte, eröffnete Leiche. Professor Hammer zeigt daran nochmals manche der eben virtuell präsentierten Körperareale.
So sieht also eine Anatomievorlesung 2.0 im digitalen Zeitalter aus. Und die Kepler Universität nimmt hier eine Vorreiterrolle ein. „Wir sind in der außerordentlich glücklichen Lage, dass wir mit unserem JKU medSPACE, diesem Hightech-Raum für die 3D-Präsentation, über einen von derzeit weltweit nur drei solcher Räume verfügen“, erzählt Franz Fellner im Gespräch.
Virtuelles Sezieren mit Cinematic Rendering
Eingerichtet wurde der JKU medSPACE in Zusammenarbeit mit den Experten des ebenfalls in Linz ansässigen Ars Electronica Futurelabs. Dort, im Ars Electronica Center, befindet sich übrigens der zweite der drei Räume, hier Deep Space 8K genannt. Die dritte permanente Installation, ebenfalls entwickelt vom Ars Electronica Center, steht in einem Museum in Mexiko. Bevor der neue Med Campus in Linz fertiggestellt war, hatte Professor Fellner bereits letztes Jahr seine 3D-Anatomievorlesungen im Deep Space 8K des Ars Electronica Centers abgehalten.
„Hier kommt klassische 3D-Technologie wie aus den Virtual Reality Labs der Autoindustrie plus eine von Siemens HealthCare entwickelte, spezielle Bildverarbeitungssoftware zur Anwendung“, erläutert Roland Haring, Technischer Leiter des Ars Electronica Futurelabs.
Das Rechenverfahren nennt sich „Cinematic Rendering“ – in Anlehnung an den Kinoeffekt, der damit erzielt wird. Und weil ein ähnlicher Algorithmus auch für Animationsfilm e verwendet wird. Drei große Computerschränke arbeiten dafür in einem gekühlten Raum direkt über dem JKU medSPAC E. Dank der enormen Rechnerkapazität entstehen aus den Informationen ganz normaler CT-Röntgen- und MRI-Aufnahmen die hochaufgelösten räumlichen Bilder.
Für den Kopf in der Vorlesung wurden die CT-Aufnahmen einer Frau verwendet. Aber man erkennt nicht einmal, dass der knallbunte Kopf der einer Frau ist, geschweige denn individuelle Züge. Andere Patient*innenaufnahmen lieferten die Berechnungsgrundlage für Arme, Beine, den Bauchraum oder auch einzelne Gelenke. Somit sind auch die individuellen Leiden wie ein Stein im Speicheldrüsengang oder Gefäßveränderungen sichtbar.
Die 3D-Ansicht für die Zuschauer* innen kommt durch die stereoskopische Brille zustande. Diese gewährt mit einer Frequenz von 120 Hertz jeweils nur dem rechten oder linken Auge einen Blick auf die Wand. Der räumliche Seheindruck entsteht, weil die vier Projektoren, die die Computerbilder auf die Wand werfen, ebenfalls räumlich getrennt angeordnet sind. Das ist weitgehend konventionelle Kinofilmtechnik. Die Wand, auf die die 3D-Bilder projiziert werden, ist hingegen eine ganz normale Raumwand.
„CT-Aufnahmen liefern Dichteinformationen“, erklärt Professor Fellner. „Je dichter ein Körpergewebe, desto heller erscheint es im Bild. Daher sind Knochen in klassischen CT-Bildern fast weiß, flüssigkeitsgefüllte Bereiche wie Ventrikel im Gehirn oder Arterien und Venen ganz dunkel. Werden vorab hingegen Kontrastmittel verabreicht, so sieht man die Blutgefäß e als helle Leitungen auf den Bildern, denn das im Mittel enthaltene Jod hat eine hohe Dichte.“
„In den Rohdaten der konventionellen Aufnahmen sind bereits durch die Dichteabstufungen die Volumina enthalten“, erläutert Roland Haring. Man könne sich das so vorstellen, dass das Programm für sehr kleine Würfel die Dichte berechne und dann lauter solche Miniwürfel an- und aufeinandersetze. So entsteht ein 3D-Bild.
Dieses kann man auch auf dem Computermonitor erkennen. Solch ein Cinematic-Rendering-Bild ist schon anschaulicher als die zweidimensionalen CT-Bilder, die ja de facto planare Schnitte durch den Körper wiedergeben. Aber auch kein noch so guter Monitor kann den fast schon atemberaubenden Effekt der 3D-Projektionen auf der Raumwand erzielen.
Mithilfe von Cinematic Rendering kann man jedoch nicht nur den dreidimensionalen Kopf, wie in der Anatomievorlesung gesehen, virtuell sezieren und immer weiter in ihn hineingehen. Man kann auch den Körper und seine unterschiedlichen Strukturen sozusagen schichtweise virtuell aufbauen.
Professor Fellner demonstriert uns das anhand eines Torsos. Zuerst sehen wir nur die ganz harten Strukturen, also Knochen. Auf der Wand lässt der Radiologe und Anatomielehrer Wirbelsäule, Rippenbögen, Beckenknochen kreisen. Auch hier strahlt das anatomische 3D-Bild seine ganz eigene filigrane Ästhetik aus. Mit einem Klick kommen dann die Blutgefäße, basierend auf einer Kontrastmittelaufnahm e, hinzu. Wir sehen die Aorta, ihre Verzweigungen bis in die kleinsten, nur noch Millimeter dünnen Verästelungen in den Organen. Wir erkennen sehr gut, wie die Blutbahnen im Raum angeordnet sind. Oder vereinfacht gesagt: Wann welche Leitung nach hinten oder vorne abbiegt.
Als ob man nun mit einem Zauberstab die Wand angetippt hätte, füllt sich Klick für Klick vor unseren Augen das weitgehend hohle Gerüst aus Knochen und Blutgefäßen mit Organen, Bindegewebe und Fettgewebe. Zuletzt legen sich die Muskelstränge darüber. Die einzelnen Namen derselben erspart der Professor uns Nicht-Medizinstudent* innen gnädig. Aber so ganz kann er seine Profession und Passion nicht verleugnen, wieder gleitet plötzlich der giftgrüne Pfeil über die Wand und er fragt: „Na, was könnte das denn sein?“ Zum Glück hat er ein einfaches Objekt ausgewählt, die Leber erkennen wir sofort.
„Eigentlich sind wir hier in Linz nur durch einen Zufall an das Programm gekommen. Denn Siemens wollte ein Projekt zur Erprobung des Programms für Lehre und Diagnostik starten. Dafür suchten sie einen Raum. Da war der Deep Space im Ars Electronica Center Linz ideal geeignet und so fand das Treffen hier statt.“
Zudem hatten die Geldgeber*innen in Wien bei der Genehmigung einer medizinischen Fakultät in Linz die Vorgabe gemacht, dass hier die Anatomie modern – sprich digital und auf lange Frist damit auch kostensparend – abgehalten werden muss. Denn die für die Leichenpräparation nötige Infrastruktur ist teuer und benötigt viel Platz.
„Als ich die Entwicklung von Siemens gesehen habe, wusste ich sofort, dass dieses Cinematic-Rendering-Programm genau das ist, was wir hier in Linz brauchen“, sagt Professor Fellner und man hört die Begeisterung.
Nun absolvieren die Linzer Medizinstudierenden „nur“ noch einen vierwöchigen Sezierkurs in Graz, haben aber zwei Semester lang mehrmals pro Woche die neuen Anatomievorlesungen im JKU medSPACE mit den Cinematic-Rendering-Bildern.
Und die Belehrten sind offenbar sehr angetan. „Der Mensch ist nun mal ein Wesen in 3D und nicht 2D“, meint eine Studentin nach der Vorlesung. „Wenn ich da irgendwo durchsteche oder reinschneide, dann muss ich schon wissen, welche Muskelstränge und Gewebe übereinanderliegen und wie genau.“
Nur der echte Körper bietet die wahren Dimensionen
Natürlich sollten genau das alle praktizierenden Ärzt*innen seit jeher wissen. Doch die 3D-Bilder helfen ungemein, ist die einhellige Meinung vor dem Hörsaal. „Ich verstehe den Aufbau des Körpers nun intuitiv“, meint eine andere Studentin. „Ich muss nun nicht mehr beim Lesen alles erst mal nachdenken und mir selber räumlich vorstellen. Ich bekomme das nun sozusagen frei Haus geliefert. Anatomie wird intuitiv verstehbar.“
Klar, all die Fachwörter und Bezeichnungen muss man wie seit Jahrhunderten auswendig lernen. Aber auch das falle ihm nun leichter, meint ein Student. „Ich habe die 3D-Bilder im Kopf und orientiere mich daran.“ Professor Fellner hat festgestellt, dass diejenigen, die schon länger mit den neuen 3D-Bildern und den damit verbundenen vielfältigen Möglichkeiten der Präsentation vertraut seien, auch CT- und MRI-Bilder besser verstehen und dort viel schneller die richtigen Strukturen erkennen würden. Und das sei ja schließlich das Alltagsgeschäft der Ärzt*innen im Krankenhaus oder auch in der Praxis.
„Aber ein echtes Sezieren von Leichen kann auch die beste 3D-Vorlesung nicht komplett ersetzen“, ist er überzeugt. „Man muss schon auch mal den menschlichen Körper begreifen im wahrsten Sinn des Wortes. Nur wenn man einen echten Körper vor sich hat, dann sieht man die wahren Dimensionen und kapiert, wie klein eigentlich all die lebenswichtigen Orga ne in Wirklichkeit sind.“
Doch für die vielen Wiederholungen, bis die angehende Medizinerin und der künftige Arzt alle anatomischen Details im Schlaf herunterbeten können, kann man viele Leichenpräparierungen durch die Cinematic-Rendering- Bilder ersetzen, meinen Professor Fellner wie auch die Studierenden.
Kürzlich wurde der JKU med- SPAC E erstmals auch für eine Mediziner* innen-Fortbildung genutzt. Um die Lehre noch weiter zu verbessern, sollen künftig auch Operationen live in den JKU medSPACE während einer Vorlesung übertragen werden. Dann werden zwar das Ärzteteam und der Patient wie in einem normalen Kinofilm ausschauen. Aber die CT- und MRI-Bilder, die zuvor für die Diagnose erstellt worden sind, könnten dazu in 3D eingeblendet werden.
Inwieweit nicht nur die Lehre, sondern auch die Diagnosestellung, zum Beispiel vor Operationen, durch Cinematic Rendering verbessert werden könnten, das wird gerade an der Universität Erlangen in Deutschland mit dem Siemens-Programm erforscht und ausgetüftelt. Auch das Team vom Ars Electronica Center bastelt schon an neuen Ideen. „Ich will da noch nicht zu viel verraten“, meint Roland Haring schmunzelnd, „aber wir können uns durchaus vorstellen, dass wir auch Szenen aus der realen Welt in 3D in den JKU medSPACE bringen. Dort könnten wir damit eine sehr reale Umgebung schaffen, in der die Studierenden dann agieren müssen.“