Menschen sind Beziehungswesen „von Natur aus“. Fragt man sie, was ihrem Leben Sinn verleiht, so stehen in allen Altersgruppen soziale Beziehungen an vorderster Stelle. Beziehungen sind ausschlaggebend dafür, wie es uns geht, ob wir glücklich und motiviert sind, oder ob wir uns schlecht, schwach, an den Rand gedrängt fühlen. Und das wiederum hat messbaren Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Man kann das durchaus auch „Glück“ nennen. Wir sprechen dann von den „3G“, denn Gemeinschaft ist mit Gesundheit und Glück eng verbunden.
„Das erste und wichtigste Gut, das wir aneinander zu vergeben und zu verteilen haben, ist Mitgliedschaft in einer menschlichen Gemeinschaft.“ Dieser Satz des Sozialphilosophen Michael Walzer bringt es auf den Punkt, denn Dazugehörigkeit ist ein tief verankertes menschliches Bedürfnis. Über Millionen Jahre hinweg waren soziale Verbundenheit und Kooperation eine Überlebensfrage. Das Gegenteil davon – soziale Ausgrenzung – wird deshalb als existenziell bedrohlich empfunden. Und das ist es tatsächlich: Wenn Menschen erleben, aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden und auf diese Weise einen sozialen Schock erleiden (Beispiel: Mobbing), kann das schwere Krankheitsreaktionen hervorrufen und sogar zum plötzlichen Herztod führen. Das Spektrum sozialer Beziehungen reicht also von Glück und Gesundheit des Einzelnen bis zu Einsamkeit und tiefem Leid. Auf gemeinschaftlicher Ebene bewirken soziale Beziehungen im besten Fall Engagement, Innovationskraft und Partizipation, oder – bei schwachem Sozialkapital – Anomie, Kriminalität und steigenden Kontrollaufwand.
Doch Beziehungen sind keine „Glückssache“. Jeder kann selbst viel dazu beitragen und sein Umfeld mitgestalten. Dazu hilft ein Einblick in die Methoden und Erkenntnisse der Sozialkapitalforschung.
Überall dort, wo Menschen zueinander in Beziehung treten, entsteht SOZIALKAPITAL – in der Familie, unter Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen, in der Nachbarschaft, in Vereinen. Sozialkapital ist der soziale Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft. Es sind die vertrauensvollen Beziehungen, die Menschen auf unterschiedlichen Ebenen miteinander haben.
Der Begriff „Sozialkapital“ entstand zu Beginn des vorigen Jahrhunderts und war lange Zeit nur in der Wissenschaft bekannt, bis er schließlich durch die gesellschaftlichen Veränderungen in den 1980er-Jahren auf „fruchtbaren“ Boden fiel und dadurch öffentlich wurde. Zu diesen Veränderungen zählten eine zunehmende Abkoppelung von gesellschaftlichen Institutionen, Wertewandel, erhöhte Mobilität und eine rasante Akzeleration vieler Lebensprozesse. Nun wurde deutlich, dass soziale Beziehungen eine wichtige Ressource sind: für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganzes. Dieser Wert – das „soziale Kapital“ – wurde in vollem Umfang erst erkannt, als man sein Schwinden und den Verlust spürte. Zu den Pionieren der neuen Forschungsrichtung gehörte der amerikanische Soziologe und Politikwissenschaftler Robert D. Putnam. Er konnte zeigen, dass die Leistungsfähigkeit von Regionen davon abhängig ist, wie stark die sozialen Bindungskräfte – Vertrauen, Werte, Normen der Menschen untereinander – ausgeprägt sind. Vereinfacht gesagt, kam er zu dem Schluss, dass die Regionen mit den meisten Gesangsvereinen das beste Sozialkapital haben. In unseren Sozialkapitalstudien in Österreich, Italien und Liechtenstein (n > 20.000) haben sich diese positiven Wirkungszusammenhänge zwischen dem Engagement der Menschen in Vereinen und Organisationen, deren Sozialkapital, Gesundheit und Lebenszufriedenheit sowie der Demokratiefähigkeit und Sicherheit einer Region bestätigt.
Sozialkapital wird auf drei Ebenen gemessen: auf der Mikroebene des engen vorbehaltlos vertrauten Familienund Freundeskreises; auf der Mesoebene der Netzwerke und größeren Gruppen von Menschen, die einem persönlich nicht ganz nahe stehen, die im Bedarfsfall jedoch Unterstützung und hilfreiche Beziehungen gewährleisten können (dazu zählen Nachbarschaften, Vereine, Schulen, Unternehmen sowie der gesamte erweiterte Bekanntenkreis); und auf der Makroebene der sozialen, kulturellen, politischen oder religiösen Wertegemeinschaften, zu denen Verbundenheit nicht in erster Linie durch persönliche Bekanntschaft, sondern durch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer „geistigen Heimat“ und durch das Teilen höherer Ideale und Begeisterung besteht: Natur, Musik, Sport sind Aspekte, die heute für diese Ebene charakteristisch sind und für viele Menschen Bedeutung haben.
Im Idealfall haben Menschen auf allen drei Beziehungsebenen ausreichend Sozialkapital. Es reicht nicht, sich nur auf einen Bereich zu konzentrieren – beispielsweise auf einige wenige vertraute Menschen. Das ist ein heute weit verbreiteter Trend, den man „Cocooning“ nennt: die Tendenz, sich aus dem öffentlichen Leben in die Häuslichkeit der Privatsphäre zurückzuziehen. Allzu leicht kann dieses enge System brechen, und man steht ohne Netzwerk und Sinnkontext da.
In vielen Regionen sind die größeren geselligen Kreise (Mesoebene) deutlich schwächer ausgebildet als die Nahebeziehungen. Manchmal hat nicht einmal die Hälfte der Befragten mehr als zehn gute Bekannte. Nachbarschaften werden eher selten gepflegt. Vereine kämpfen mit schwindenden Mitgliederzahlen oder lösen sich ganz auf. Von schwachem Sozialkapital sind besonders alleinerziehende Mütter betroffen, Menschen aus anderen Kulturkreisen, Arbeitslose, Jugendliche aus desolaten Familienverhältnissen. Mit zunehmendem Alter steigt die Gefahr der Vereinsamung. Etwa ein Drittel der älteren Menschen hat ein Defizit an Sozialkapital. Das ist ein echter Krankheitsfaktor und wirkt sich auch auf das Vertrauen gegenüber der Gesellschaft aus – auf die Einschätzung der Umgebung, auf Angst vor Gewalt und Kriminalität und auf die Einschätzung der Politik. Vereinsamung, Bindungs- und Orientierungslosigkeit können bei Menschen, die Halt und Sicherheit suchen, leicht von Ver-„Führern“ missbraucht werden – für Krieg und Terror, Machtgewinn und Ausbeutung. Oder einfach fürs Geschäft.
Wir können diesen negativen Entwicklungen entgegenwirken. Jede einfühlende Zuwendung zu Einzelnen oder zu einer Gruppe stärkt Sozialkapital – und damit Gesundheit und Glück. Es kann die Einladung zu einer Tasse Tee mit einer Nachbarin sein, ein Spaziergang mit einer alten Frau, das bewusste Wahrnehmen der Jahreszeiten, Spielen mit einem Kind, Singen in einem Chor. Musik intensiviert die psychologische Resonanz der Menschen untereinander. Musik berührt, bewegt und verbindet. Bei jungen Menschen steht sie auf der Makroebene sogar an erster Stelle. Auch ehrenamtliche Tätigkeit stärkt den sozialen Zusammenhalt, fördert Vertrauen und ist sinnstiftend. Menschen, die sich engagieren, identifizieren sich stärker mit der Region, in der sie leben. Darauf beruhen auch die zahlreichen neuen Bewegungen, die sich in den Städten entwickelt haben, wie beispielsweise „tauschen statt kaufen“, Nachbarschaftsnetzwerke oder urbaner Gartenbau.
Die natürliche Sehnsucht nach Nähe, Verbundenheit und Gemeinschaft gibt uns die Kraft, der Vereinzelung und Vereinsamung entgegenzuwirken. Jeder hat die Möglichkeit, sein Sozialkapital durch die „Investition“ von Zeit und Aufmerksamkeit in „Beziehungsarbeit“ zu vergrößern. Das hilft persönlich und wirkt gemeinschaftlich. Weitere Ideen zur Stärkung von Sozialkapital auf den drei Ebenen findet man auf der Seite http://www.sozial-kapital.at/was-sie-selbst-tunkoennen.html, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
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