Mithilfe seiner hierarchischen und prüfungsorientierten Universitäten will China zur einzig führenden Weltmacht werden. Kritische Intellektuelle sind dabei nicht gefragt.
Ausgerechnet unter dem „Denkmal für die Helden des Volkes“ erkannten die Studierenden, dass ihre Hoffnung auf ein neues China aussichtslos war. Hier, im Schatten der 38 Meter hohen Granitstele im Herzen des gigantischen Tiananmen-Platzes, hatten sie wochenlang ausgeharrt, Sit-ins veranstaltet, flammende Reden gehalten und die vom Hungerstreik Geschwächten gepflegt. Und hier erwarteten sie nun ängstlich, dass die Panzer der Volksbefreiungsarmee die Barrikaden durchbrachen. „Wir standen leise im Auge des Sturms, während sich ein Orkan um uns zusammenbraute“, erinnerte sich der Liedermacher Hou Dejian, der an jenem Abend des 3. Juni 1989 im Licht der Taschenlampen in die gespannte Stille hineinsang. Nicht viele junge Chinesinnen und Chinesen haben heute eine Vorstellung davon, welche freiheitlichen Diskurse sich einst an den Universitäten ihres Landes abspielten. Nur außerhalb des chinesischen Festlandes wird an die Pekinger Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfer erinnert, zum Beispiel in Hongkong, wo sich Studierende in den vergangenen Monaten ebenfalls immer heftiger gegen den Einfluss Pekings auflehnten. Weniger Aufmerksamkeit bekommt hingegen, dass auch die Universitäten auf dem chinesischen Festland wieder Motoren des gesellschaftlichen Wandels geworden sind – mit weitreichenderen Folgen, als auf dem Tiananmen- Platz im Frühsommer 1989 möglich schien. China hat Chancen, zur führenden Weltmacht des 21. Jahrhunderts zu werden. Nicht von unten, auf den zarten Schultern einer Graswurzelbewegung, sondern mit von oben aufoktroyierten Reformen, die Chinas Universitäten zu Schmieden der technokratischen Elite von morgen machen sollen. Kritische Intellektuelle sind dabei nicht gefragt. Der Staat will leistungsfähige Programmierer, Ingenieure und Wissenschaftlerinnen, um sein Wachstumsparadigma für das 21. Jahrhundert einzulösen: Spätestens 2049, dem 100. Jubiläum der Staatsgründung, will die Volksrepublik als führende Tech-Macht alleine an der Weltspitze stehen. Es geht um nicht weniger als die „Wiedergeburt der chinesischen Nation“. Dass ökonomischer Erfolg nicht notwendigerweise mit Demokratie und liberalen Bildungsstrukturen einhergehen muss, hat China bewiesen – sehr zum Schock des Westens. Obwohl das Land als erstes vom Coronavirus heimgesucht wurde, wird es dieses Jahr vermutlich als einzige Industrienation der Welt ein moderates Wachstum verzeichnen. Das macht die gebeutelte globale Wirtschaft noch abhängiger von dem erwachten Riesen.
„Der Wettbewerb zwischen den Nationen ist heute tatsächlich ein Wettbewerb in Innovation“, erklärte Ministerpräsident Li Keqiang, der zweite Mann im Staat, im April 2016 auf einem in Peking abgehaltenen Bildungssymposium. Auf dem Weg von der „Werkbank der Welt“ zur wissensgetriebenen Innovationsgesellschaft komme den Hochschulen die Aufgabe zu, „auf breiter Basis Innovation und Unternehmertum hervorzubringen“. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Peking dabei den sogenannten C9- League- Universitäten, neun ausgewählten Hochschulen, die – provokant die acht prestigeträchtigen US-Ivy- League-Unis bereits an der Zahl übertreffend – bis Mitte des Jahrhunderts zu globalen Leuchttürmen der Bildung werden sollen. In China klingen die Namen dieser Bildungseinrichtungen, die von der Regierung mit prallen Finanzspritzen vollgepumpt werden, schon jetzt äußerst verheißungsvoll. Und das nicht nur in den Ohren potenzieller Arbeitgeber. In der bekanntesten Dating-Show des Landes bekommen Kandidaten schon mal spontan Szenenapplaus, wenn sie sich als Absolventen einer dieser Unis outen.
Siegeszug von Technik- und Naturwissenschaften
Auch international ist Chinas C9-Liga auf einem guten Weg: Dieses Jahr fand sich mit der 1911 gegründeten, nach einem kaiserlichen Garten benannten Tsinghua University erstmals eine dieser Unis unter den Top- 20 des als neutral geltenden Times Higher Education Rankings. Auf den vorderen Plätzen sitzen westliche Eliteuniversitäten wie Oxford, Cambridge oder Stanford nach wie vor fest im Sattel. Doch eine Umwälzung von hinten deutet sich bereits an: So hat China seine Präsenz in den Top- 100 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Besonders im mittleren Bereich fallen die Hochschulen aus den USA und anderen westlichen Ländern immer stärker gegenüber der Konkurrenz aus Asien ab. Schaut man auf das asiatische Ranking allein, liegt die Tsinghua-Uni bereits auf Platz eins, gefolgt von der Peking-Universität auf Platz zwei.
Damit Chinas Hochschulen zu den Eliteuniversitäten der Welt aufschließen, hat das Bildungsministerium in den vergangenen 30 Jahren zahlreiche Reformprogramme aufgelegt. Der jüngste Meilenstein war die 2017 auf der Nationalen Bildungskonferenz verkündete „Double Top“-Initiative (shuāng yī liú’), mit der 137 Universitäten bis Mitte des Jahrhunderts gezielt auf Weltniveau gepäppelt werden. „Wir wollen Bildungseinrichtungen schaffen, die der chinesischen Kultur und den Grundwerten des chinesischen Sozialismus treu bleiben und gleichzeitig weltweit Einfluss ausüben“, schreibt das Bildungsministerium. Der Aufstieg der Wissenschaften ist in China vor allem ein Siegeszug der Technik- und Naturwissenschaften. Trotz des langen konfuzianisch- humanistischen Erbes werden Geisteswissenschaften eher vernachlässigt. Der Anteil des Budgets für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt hat sich in China zwischen 2000 und 2014 mehr als verdoppelt. Dabei zielt die chinesische Grundlagenforschung vor allem auf die Erfindung vermarktbarer Produkte ab. Weil Chinas Bildungsziele so eng mit der staatlichen Modernisierungsstrategie verknüpft sind, werden potenzielle Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz, Robotik oder Bio-Tech schneller und flexibler in die Lehre integriert als etwa in Europa. 2017 gab es nur 19 chinesische Hochschulen mit eigenen KI-Grundstudiengängen. Ein Jahr später waren es bereits 96. Etwa 70 Prozent der Studierenden wählen Studienfächer, die gerade auf der industriepolitischen Agenda stehen. Planwirtschaft und Entrepreneurship gehen dabei Hand in Hand: Studierende von Unis wie der traditionsreichen Sichuan University in Chengdu können sich bereits während des Studiums um Startkapital für ihr eigenes Unternehmen bewerben. Ausgewählte Studierende durchlaufen zudem staatliche Exzellenzprogramme wie das „Global AI Talent Training Program for Chinese Universities“, für das weltberühmte Tutoren wie der Turing-Award-Gewinner John E. Hopcroft oder Chinas KI-Guru Kai-Fu Lee verpflichtet werden konnten.
Dabei geht es auch darum, Lehrkräfte auszubilden, um Chinas wachsenden Bedarf an Spezialistinnen und Spezialisten zu decken. Deren Schulung beginnt mittlerweile schon vor der Hochschullaufbahn. Im November 2019 erweiterte das chinesische Bildungsministerium den Lehrplan für weiterführende Schulen um Bücher über KI, Big Data und Quantencomputing. In einigen Pilotprojekten lernen bereits Grundschüler das Programmieren. Auch Privatschulen, die Coding für Kinder anbieten, haben in China Hochkonjunktur. Tech-Startups wie das in Shenzhen ansässige „Kittenbot“ liefern die niedlich aussehende Lern-Hardware, andere wie „Squirrel AI“ bieten auf Künstlicher Intelligenz basierende selbstlernende Nachhilfeprogramme. Innerhalb des kommenden Jahrzehnts will Chinas Regierung eine KI-Industrie im Wert von über 150 Milliarden Euro aufbauen. Auch deshalb ist das Thema im Alltag präsenter als bei uns, von Bankautomaten, die per Gesichtserkennung Geld ausspucken, bis hin zu Fernsehshows, in denen Prominente ihre vier Sinne mit den Fähigkeiten von Supercomputern messen. Mit Vita Zhou hat China sogar schon einen KI-Influencer im Grundschulalter. Von seinem Zuhause in Shanghai streamt der pausbäckige Achtjährige Coding-Schulungsvideos an rund 80.000 Follower. Sogar Apple- CEO Tim Cook ist Fan und hat Zhou bereits Geburtstagsglückwünsche ausgerichtet.
Bildung hat in China eine lange Tradition. Erste konfuzianische Akademien lassen sich bis in die Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) zurückdatieren. An dem hierarchischen und prüfungsorientierten Charakter des chinesischen Schulsystems hat sich seitdem wenig geändert. Während einst kaiserliche Prüfungen darüber entschieden, ob man zum geachteten Mandarin aufstieg, entscheidet heute der „Gaokao“, die von Schülerinnen, Schülern und Eltern gleichermaßen gefürchtete nationale Hochschuleingangsprüfung, ob man einen Studienplatz an einer der renommierten Unis ergattert. Zehn Millionen Studierende nehmen jährlich an dem mehrtägigen Test teil, gestählt durch monatelanges Pauken, Schweiß, Tränen und teuren Nachhilfeunterricht. China betrachtet sich traditionell als Meritokratie. Über die Bildungschancen soll allein die Leistung entscheiden. In der Praxis ist das nicht immer der Fall. Die Qualitätsunterschiede zwischen Schulen auf dem Land und denen der Boom- Metropolen sind teilweise enorm. Jungen Menschen aus der Provinz fehlt oft das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital, um sich an den klassenbewussten Eliteunis zu behaupten. Auch haben sie weniger Chancen, auf teure Privatschulen auszuweichen, die in China mittlerweile mehr als ein Viertel der Hochschuleinrichtungen ausmachen – Tendenz steigend.
Auch hier steht Chinas Bildungswesen an einem Scheideweg: Soll Peking in einen noch breiteren Zugang zur Hochschulbildung investieren oder lieber weiter ausgewählte Eliteunis zur Weltspitze hochspritzen? Schon jetzt sind einige C9-Unis vergleichsweise überfinanziert. Wie im Fußball werden Top-Wissenschaftler aus dem Ausland engagiert, nicht selten Altstars, die zwar Prestige bringen, das Land aber auch nach kurzer Zeit wieder verlassen. Weniger hoch im Ranking angesiedelte Institute aus Zentral- und Westchina ziehen den Kürzeren, was Ressourcenzuteilung und Qualität von Forschung und Lehre angeht. Verschiedene Vorstöße in die entgegengesetzte Richtung, etwa eine erhöhte Aufnahmequote für benachteiligte Landstriche, sorgten bereits für heftigen Widerstand in der wachsenden Mittelschicht. Durch die jahrzehntelange Ein-Kind-Politik wollen viele Eltern keinen Zentimeter zurückweichen, wenn es um die vermeintlich gleichen Bildungschancen ihrer Sprösslinge geht. Denn auf dem chinesischen Arbeitsmarkt konkurrieren viele Absolventinnen und Absolventen heute eher mit Diplomen und Zertifikaten als mit ihren Fähigkeiten.
Quantität statt Qualität
Dazu passt, dass Chinas Spitzenunis allergrößten Wert darauf legen, in internationalen Wissenschaftspublikationen und einschlägigen Fachjournalen aufzutauchen. Mit Erfolg: Anfang 2018 kamen zum ersten Mal mehr wissenschaftliche Fachartikel aus dem Reich der Mitte als aus den USA. Demnach veröffentlichten chinesische Forscherinnen und Forscher zwischen 2016 und 2018 über 900.000 Forschungspapiere. Der bisherige Spitzenreiter USA kam nur auf rund 600.000. Weil die Publikationsliste eine so große Rolle spielt und obendrein die Karrierechancen enorm beeinflusst, stehen viele junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter enormem Druck zur Veröffentlichung, wodurch sich in den letzten Jahren Fälschungsskandale und Fälle von Korruption häuften. Innovation wird in China vielerorts mit Quantität statt mit Qualität gemessen, frei nach dem Motto „publish or perish“. Die renommierte Pekinger Tsinghua-Universität kündigte bereits an, dass Doktorandinnen und Doktoranden ihre Forschungsergebnisse nicht mehr in internationalen Fachzeitschriften veröffentlichen müssen, um promovieren zu können. „Langzeitstudien“ seien wichtiger als „schnell geschossene Veröffentlichungen“, schreibt die Staatszeitung China Daily. Die Entscheidung hängt jedoch nicht allein damit zusammen, den Druck von den Studierenden zu nehmen, sondern auch damit, dass China zunehmend über das Ansehen im Ausland erhaben sein möchte. Während einer Nationalen Bildungskonferenz erklärte Staatsund Parteichef Xi Jinping, dass China eigene akademische Standards setzen müsse, die „nicht von westlichen Ideen oder Normen geleitet werden“. Die Zentralregierung regte dazu an, eine „Zitationsdatenbank mit chinesischen Merkmalen und internationalem Einfluss“ aufzubauen. Das Ziel sei, „ein neues Bewertungssystem zu etablieren, das für Chinas Bedürfnisse relevant ist und insbesondere zur Lösung chinesischer Probleme verwendet wird“.
Festnahmen und Entlassungen
Mit dem Führungsduo Xi Jinping und Li Keqiang hat die weltanschauliche Erziehung an Chinas Universitäten noch einmal angezogen. 2015 ordnete der damalige Bildungsminister Yuan Guiren an, die Hochschulen von „westlicher Irrlehre“ zu befreien und sich stärker auf den Marxismus und die „Werte von Präsident Xi Jinping“ zu konzentrieren. Dass auch der Marxismus einst aus dem Westen kam, sagt man in Chinas Hörsälen besser nicht laut. In vielen Unterrichtsräumen sind mittlerweile Kameras installiert. Von der Partei kontrollierte Zensurabteilungen überwachen Studierende und Dozierende gleichermaßen. Zugang zu wissenschaftlichen Fördermitteln und Ausschreibungen gibt es nur für linientreue Kandidatinnen und Kandidaten. Viele Lehrkräfte fürchten um ihren Job und ihre Sicherheit: In mehreren Universitäten kam es in den vergangenen fünf Jahren zu Festnahmen und Entlassungen, zahlreiche Professoren mussten ihre Posten räumen, unter ihnen offene Regierungskritiker wie der ehemalige Tsinghua-Juraprofessor Xu Zhangrun, aber auch unauffällige Lehrkräfte wie der Wirtschaftswissenschaftler You Shengdong von der Xiamen University, der im Unterricht Xi Jinpings Vision vom „chinesischen Traum“ kritisch auseinandergenommen hatte. Verraten wurde er von einem Studenten.
Dass Wissenschaft nur in freiheitlichen Demokratien gedeiht und autoritäre Kontrolle Kreativität ausschließt, ist westliches Wunschdenken. Chinas boomender Tech-Sektor und global erfolgreiche Apps wie TikTok sind dafür nur die ersten Beweise. Wahr ist aber auch, dass Angst und Selbstzensur kein guter Motor für eine nachhaltige Wissensgesellschaft sind. Die braucht kritischen Diskurs, freien Zugang zum Internet, Selbstorganisation und Mut zum Experiment außerhalb des Markt- und Staatsdiktats. Das Credit- System chinesischer Universitäten ist noch immer so straff durchgetaktet, dass vergleichsweise wenig kreativer Spielraum bleibt. Querdenker und kreative Köpfe behaupten sich in China oft nicht dank, sondern trotz ihrer Ausbildung. Aber Köpfe hat das Riesenreich genug: Derzeit machen jährlich acht Millionen chinesische Studierende den Abschluss an einer Hochschule. Das ist mehr als die Zahl der Absolventinnen und Absolventen aus Indien und den USA zusammen.
Attraktive Rückholprogramme
Neben der schieren Masse gibt es einen weiteren Faktor, der den Bildungs- Boom in China anfeuert: Seit die Trump-Regierung sie als potenzielle Spione und Sicherheitsrisiken einstuft, spielen mehr und mehr chinesische Studierende mit dem Gedanken, zurück in ihr Heimatland zu kehren. Über 600.000 chinesische Staatsangehörige studieren derzeit im Ausland, darunter 360.000 allein in den USA. Ihre Studiengebühren, oft Zehntausende Dollar im Jahr, sind eine wichtige Einnahmequelle für die internationale Universitätslandschaft. In den vergangenen Monaten hat Washington bereits rund 1.000 Visa für chinesische Staatsangehörige widerrufen und Universitäten wie die Harbin Engineering University auf eine schwarze Liste gesetzt, um sie von Forschungsmaterialien aus den USA abzuschneiden. Studierende technologischer Fachrichtungen werden bei der Ausreise besonders gut durchsucht. Die meisten sind patriotisch erzogen worden und haben nun das Gefühl, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Das ist schlecht für die amerikanische Wirtschaft: Laut einer Studie der National Science Foundation arbeiten 90 Prozent der chinesischen Auslandsstudierenden von MINT-Fächern zehn Jahre nach dem Abschluss noch immer in den USA. Der in den Augen Chinas nicht gerade souveräne Umgang des Westens mit der Covid-19-Pandemie wird die Abkehr der chinesischen Studierenden noch beschleunigen. Um sie zurück in ihre Heimat zu locken, hat Peking attraktive Rückholprogramme mit üppigen Forschungsbudgets aufgelegt. Die Zahl jener, die nach dem Abschluss nach China zurückkehren, ist zwischen 2009 und 2018 bereits von 40 auf rund 80 Prozent gestiegen. In China nennt man die Heimkehrer auch „Meeresschildkröten“: Ihr Weg führt sie zurück an die Strände ihrer Geburt, wo sie selbst Eier ablegen. Goldene, wenn es nach der chinesischen Regierung geht.