Wie die Zeit vergeht, ist ein oft getaner Ausruf der Verwunderung über den Lauf derselben. Gerade ging ich noch in die Schule, trug mein frisch geborenes Kind im Arm und hatte deutlich mehr Haare am Kopf, was den Rest nicht hindert, jeder Art von Zähmung die immer breiter werdende Stirn zu bieten. Meine Großeltern sind Jahrzehnte tot, wenn auch kein Tag vergeht, an dem ich sie wie einige mehr verschwundene Menschen im Sinn habe und vermisse. „Es ist mein tiefer Glaube, dass die Toten nicht tot sind, solange wir leben“, lese ich beim verehrten Universaldenker Alexander Kluge, der am Valentinstag neunzig Jahre alt geworden ist. Seit fast vierzig Jahren spiele ich mit meinem über neunzig Jahre alten Organistenfreund. Im Alter von zwölf, dreizehn Jahren habe ich die Seiten gewechselt. Bis dahin galt ich als aufstrebender Ministrant, dem künftige Führungspositionen zugetraut wurden. Es kam anders, der Organist nahm den angehenden Flötenspieler unter seinen Fittichen auf die Orgelempore mit. Ich habe nicht nur die Seiten, sondern auch die Perspektive gewechselt. Noch heute fahre ich alle heiligen Zeiten, sie sind es mir wirklich, in meinen Heimatort, um mit ihm zu musizieren. Ich habe wenige so leidenschaftliche Musiker wie ihn kennengelernt. Er nimmt sein Amateursein ernst und liebt, was er tut.
Ich frage die Urgroßmutter meiner Töchter, sie wird in drei Jahren hundert, was sie gerne tun würde: „Tanzen möchte ich noch einmal!“, antwortet sie mir ohne Nachdenken mit verschmitztem Lächeln und ihre Augen leuchten wie die ihres jüngsten Urenkelkinds, das mehr als neun Jahrzehnte nach ihr das Licht der Welt erblickte. Seit zwei Jahren befinden wir uns schon im pandemischen Ausnahmezustand, der nicht und nicht ein Normalzustand werden will, an den wir uns, nicht nur aufgrund der häufig wechselnden Verordnungen, nicht gewöhnen könnten. Erinnern Sie sich noch, wie vor gut zwei Jahren die ersten Meldungen über eine Viruserkrankung laut geworden sind? Vielleicht glaubten Sie auch wie ich, China sei weit weg. Das mitteleuropäische Verständnis, weitgehend verschont von Erschütterungen aller Art zu sein, war ein unhinterfragtes Selbstverständnis. Und wir sind längst dabei, dieses weiterhin für uns in Anspruch zu nehmen. Erinnern Sie sich an die leeren Straßen, die Stille, die im ersten Lockdown über unseren Städten lag? Mir ist erst vor kurzem aufgefallen, dass ich einige mir sehr nahe Menschen, die nicht ums Eck leben, seit über zwei Jahren nicht leibhaftig gesehen habe. Der Schein der virtuellen Welt trügt mitunter.
Alles recht und schön! Sie fragen sich vielleicht, wo will er hinaus? Ich kann Ihnen versichern, dass Sie mit dieser Frage nicht allein sind. Wie geht es jetzt weiter? Was passiert, wenn sich der Nebel lichtet, sich die Trübungen der Pandemie am Boden abgesetzt haben und sedimentieren? Welche Spuren werden wir vorfinden? Und dabei bleibt die Frage, ob die Pandemie wirklich schon zu Ende geht? Was kommt im Herbst? Kommt nach der Pflicht die Kür, mit oder ohne Pflicht? Die Kür von was? „Was machst du gerade?“, frage ich meine fünfjährige Tochter bei einem Anruf. „Ich telefoniere mit dir!“, reagiert sie verdutzt. Wenn Klugheit ein Alter hat, ist sie mit Sicherheit um vieles älter als ich.
„Man kann dem Leben nicht mit auswendig Gelerntem begegnen“, sagt der Volksmund, aber mit Wachheit für die Gegenwart. Schon im Jahr 2019 waren laut Statistik Austria 1.472.000 Menschen oder 16,9 Prozent der Bevölkerung in Österreich armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Einkommensarmut, erhebliche materielle Einschränkungen oder geringe Erwerbseinbindung sind nach der Definition des EU-Sozialziels Merkmale dieser Gruppe. Dass diese Gruppe in den letzten Jahren mit Sicherheit nicht kleiner geworden ist, braucht nicht erwähnt zu werden. Wie wichtig der Zugang zu Bildung, zur Anstiftung eines Forscher*innendrangs ist, zeigt die Gegenwart deutlich. Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter, dem hoffentlich bald ein postpandemisches folgen wird, doch am nahen Horizont – zumindest glauben wir uns noch in der Distanz – warten schon die nächsten Herausforderungen wie die Klimakrise auf uns. Was hier in ein paar Sätzen hingeschrieben steht, sind konkrete Probleme, die für viele von uns die der anderen sind. Vor lauter Bäumen sehen wir den Wald nicht, den wir ohnehin nicht erblicken wollen.
„Das wird ein Nachspiel haben!“, hört man oft als Drohung, wenn etwas schiefgelaufen ist. Bemerkenswert finde ich, dass es gerade dann zu einem Spiel kommen soll, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Die Erfahrung zeigt, dass die Spielplätze aller Arten im Ernstfall versperrt werden. Vielleicht liegt darin unsere Chance, die Plätze des Spiels, der Fantasie, des Singens, Tanzens, Staunens ernster zu nehmen. „Jeder ist jemand!“, wie es George Tabori auf den Punkt gebracht hat, ist dabei eine wichtige Erinnerung. Wer staunt, liegt niemals falsch, denn es gibt kein falsches Staunen im richtigen Leben. „Es würde den Gesetzen guttun, wenn sie gesungen werden könnten“, darf ich mich einmal mehr auf Alexander Kluge berufen.
Ob singend oder einfach miteinander ins Gespräch kommend, wollen wir uns auch im Frühjahr im Kepler Salon vielen Fragen stellen. Das Spiel liegt mir nahe, daher lade ich Sie zu einem Spieleabend (4. April) in den Zirkus des Wissens ein. Die Zusammenarbeit mit diesem zauberhaften Spielort der Johannes Kepler Universität Linz und seinem Zirkusdirektor Airan Berg wollen wir immer wieder intensiv leben. „Likest du noch oder lebst du schon?“, fragt die Digital-Detox-Coachin Christina Feirer (11. April) und erklärt mit Know-how, Empathie und Witz, warum Apps in unserem Hirn das Belohnungszentrum aktivieren, welche Urinstinkte Likes in uns wecken, und zeigt, wie das Dauerfeuer an Nachrichten und Informationen auf uns wirkt. „Wagners Dunkelkammer“ hat sich zu einem ungeheuer wichtigen und wirksamen Format in unserem Programm entwickelt. Karin Wagner bringt gemeinsam mit Gästen Licht in Vergessenes und Verdrängtes. Am 25. April rückt Jürgen Pettinger das Schicksal von Franz Doms in den Blickpunkt und thematisiert, was es bedeutet hat, „Schwul unterm Hakenkreuz“ gewesen zu sein. Mit der Kultur- und Sozialanthropologin Bettina Ludwig sind wir unserer Zukunft auf der Spur (2. Mai): Sie nimmt uns mit zu Jäger-Sammler*innen-Gesellschaften, in denen Zeit, Besitz und Hierarchien anders funktionieren, als wir es gewohnt sind. Aus dem Blick zurück entwickelt Ludwig eine Vision für eine Gemeinschaft, in der Diversität der Normalfall ist, und bricht damit eine Lanze für Optimismus und eine gute Portion Realismus. Der Linzer Kurator und Buchdesigner Gottfried Hattinger führt mit seinem „Maschinenbuch“ (16. Mai) in ein Reich der mechanischen Fantasie, das zeigt, dass dieses nicht nur von Künstlern und Ingenieuren bevölkert wird, sondern am Rande auch von Göttern, Teufeln, Dichtern und Philosophen, Utopisten, Scharlatanen, Betrügern, Kurpfuschern und Fantasten. Nicht zufällig erscheint das Buch anlässlich der Ausstellung „Weltmaschine“, die im Offenen Kulturhaus bis 15. Mai zu sehen ist, zum 450. Geburtstag von Johannes Kepler. In der Persönlichkeit Keplers vereinen sich neben mathematischem Genius Imaginationskraft, Experimentierlust und visionäres Denken, das auch literarische Utopie nicht ausschließt. Unseren Namensstifter bringt uns auch Erich Meyer „ganz privat“ (13. Juni) näher. Dieser Abend ist der Auftakt zu einer dreiteiligen Reihe zu Johannes Kepler, die uns noch das ganze Jahr begleiten wird. Begegnen Sie im Kommenden noch Elisabeth Schweeger, Christine Haiden, Kurt Kotrschal und vielen anderen mehr. Wir bleiben dran an vielen Fragen und dabei vor allem an uns!