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Tempo

Es fühlt sich nicht wirklich gut an, zu wissen, dass wir Europäer bei den Schlüsseltechnologien, die unsere Zukunft prägen werden, nicht viel mitzureden haben. Aber sind wir tatsächlich zu lahm, um den USA und China hinterherzukommen – oder ist es manchmal auch schlau, nicht hinterherzusprinten?

Von Thomas Vašek

Der Planet Erde reicht Elon Musk schon lange nicht mehr. Seine „Star ship“- Raumschiff e sollen „weit vor 2030“ auf dem Mars landen, twitterte der Gründer und CEO des Raumfahrtunternehmens SpaceX im März vergangenen Jahres. Mit seinem Kommentar reagierte der Unternehmer auf Befürchtungen europäischer Staaten, sie könnten im Wettbewerb ums All gegenüber SpaceX ins Hintertreffen geraten. Die Europäer, so spottete Musk, würden sich eben zu „niedrige Ziele“ stecken.

Der Erste und Schnellste sein, das Unmögliche möglich machen, die Welt verändern – das sind die Visionen, die Elon Musk antreiben. Noch vor Jahren hätte niemand gedacht, dass dieser Mann einmal die Automobilindustrie das Fürchten lehren würde; seine Raumfahrtpläne wurden als Spinnerei abgetan. Man unterstellte dem genialischen Unternehmer Arroganz und Größenwahn. Heute gilt sein Elektroauto- Unternehmen Tesla als gefährlichster Konkurrent von Volkswagen, Mercedes-Benz & Co. Im vergangenen Jahr kam Tesla erstmals nahe an eine Million verkaufte Autos, eine Verdreifachung des Absatzes in zwei Jahren, bei einem Jahresgewinn von sechs Milliarden Euro. Künftig soll Tesla 20 Millionen Autos pro Jahr verkaufen, doppelt so viele wie die Marktführer Volkswagen und Toyota. Der Börsenwert von Tesla, Stand Mitte Januar: 1.100 Milliarden US-Dollar. Als im Herbst vergangenen Jahres die Tesla-„Gigafactory“ (geplant e Kapazität: 500.000 Autos pro Jahr) im brandenburgischen Grünheide, gerade einmal 205 Kilometer vom Volkswagen- Stammsitz in Wolfsburg entfernt, eröffnet wurde, wirkte das für viele wie eine Provokation. Musks Botschaft schien klar: Wir können euch unsere Fabrik direkt vor die Nase stellen – und ihr kommt trotzdem nicht hinterher.

Noch ist Tesla zwar winzig im Vergleich zum Volkswagen- Konzern, der zehn Millionen Autos pro Jahr produziert. Doch die Automobilkonzerne fürchten das irre Innovationstempo, mit dem Musk die Spielregeln der Branche verändert. In den nächsten Jahren könnte sich Tesla zu einem Plattformkonzern entwickeln, dessen Angebot von Autos über Stromspeicher bis hin zu Roboter- Taxis reicht. Einem solchen Ökosystem nach dem Vorbild von Apple hätten traditionelle Automobilhersteller wenig entgegenzusetzen.

Das Problem ist nicht neu, aber es ist sichtbarer geworden

In ganz Europa wächst die Angst, den technologischen Anschluss zu verlieren – und dadurch immer abhängiger von den USA oder China zu werden. Wie groß diese Abhängigkeit bereits ist, zeigte sich zuletzt in zwei Jahren Corona-Pandemie. Viel e Unternehmen nutzten fürs Home O° ce Technologien von Zoom oder Microsoft, die Online-Kund*innen kauften vor allem bei US-Plattformen wie Amazon ein. Ohne Facebook oder Twitter wäre die Kommunikation von Millionen Menschen zum Erliegen gekommen – und man kann sich fragen, wie viele Menschen ohne den US-Streamingdienst Netflix überhaupt durch die Lockdowns gekommen wären.

Zugleich zeigte der globale Engpass bei Computerchips, in welchem Ausmaß die europäische Wirtschaft, nicht zuletzt die Autoindustrie, auf Partner wie die USA oder China angewiesen ist. Europäische Halbleiterhersteller kommen heute auf einen Weltmarktanteil von gerade einmal zehn Prozent; europäische Unternehmen wie Infineon liegen weit hinter den US-amerikanischen und asiatischen Marktführern zurück. In Europa fehlen nicht nur konkurrenzfähige Computer- oder Smartphone- Hersteller, sondern auch große digitale Plattformen wie Google oder Facebook und Bezahldienste wie Paypal oder Apple Pay. Auch bei Schlüsseltechnologie n der Zukunft – wie der Künstlichen Intelligenz – liegen heute die USA und China vorn. Der Befund ist nicht neu, das Problembewusstsein ebenso wenig. Längst gibt es europäische Hightech- Programme, Förderinitiativen und auch Geld. So entwickelte die EU– Kommission das Förderprogramm „Horizont 2020“, das seit 2014 die europäische Grundlagenforschung vorantreiben soll; das Nachfolgeprojekt ist mit 95 Milliarden Euro sogar recht üppig dotiert. Es gibt Projekte wie die Cloud-Initiative Gaia-X, die eine Alternative zu den Diensten von Google, Microsoft und Amazon entwickeln soll. 2018 hat die EU auch einen „koordinierten Plan für Künstliche Intelligenz“ vorgestellt. Alles viel zu wenig, zu spät, zu unentschlossen vielleicht. Es fragt sich allerdings auch, was man mit der Aufholjagd überhaupt erreichen will. Die ersten fliegenden Autos bauen, den ersten funktionsfähigen Quantencomputer? Eine europäische Facebook- Konkurrenz entwickeln? Oder eine europäische Suchmaschine, wie es Frank Schirrmacher, der fürs Feuilleton zuständige Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, einmal vorschlug? Und muss es unbedingt eine bahnbrechende Neuheit sein? Was wollen wir in Euro pa überhaupt unter „Innovation“ verstehen – und welche Art Innovation streben wir an?

Innovation bedeutet im Wortsinn „Neuerung“. Meist denkt man dabei an technologische Neuentwicklungen, an neue Produkte oder Produktkategorien wie das Smartphone oder das Elektroauto. Doch eine Innovation muss kein physisches Ding sein, es kann sich auch um neue Geschäftsmodelle, um Verfahren oder Methoden handeln. Innovation ist immer mehr als eine Erfindung, mehr als eine neue Idee. Für eine neue Idee genügt manchmal ein Geistesblitz. Innovation hingegen heißt, das Neue auch erfolgreich durchzusetzen. Es erfordert wirtschaftliches Handeln. Innovation sei daher das „spezifische Werkzeug von Unternehmern“, schrieb der Management-Theoretiker Peter Drucker. Ein Lehrbeispiel dafür ist die Geschichte der deutschen Automobilindustrie.

Deutsche Autobauer im „Innovator’s Dilemma“

Das Auto wurde bekanntlich in Deutschland erfunden, von besessenen Ingenieuren und Tüftlern, die stets nach der perfekten Lösung suchten. In der Weimarer Republik bauten sie die besten Autos, aber sie schafften es nicht, ihre Konstruktionen massenhaft auf die Straße zu bringen – bis der amerikanische Hersteller Ford die deutsche Konkurrenz überrollte. Der Erfolg des „Model T“ verdankte sich revolutionären Fertigungsmethoden (Fließband) und der technischen Schlichtheit des Autos, das einfacher zu fahren war als die deutschen Modelle. Nach dem Krieg entwickelte sich das deutsche Auto zur gigantischen Erfolgsgeschichte, zu einem Symbol für deutsche Ingenieurskunst, Qualität und Perfektion.

Über viele Jahrzehnte erwirtschafteten Volkswagen, Daimler & Co. ihre satten Gewinne mit einem einzigen Produkt, das sie seither immer weiter verbessert haben. Die Logik des eigenen Erfolgs stürzte die Industrie schließlich in die Krise. So hielt man viel zu lange am Dieselantrieb fest, obwohl man wissen konnte, dass die Technologie keine längerfristige Zukunft hat. So tüftelten die Ingenieure lieber an immer raffinierteren Diesel-Einspritztechniken, als sich mit den neuen Hybrid- und Elektroantrieben zu beschäftigen. Das brachte einem visionären, schnellen und hartnäckigen Innovator wie Elon Musk den entscheidenden Vorteil. Die deutsche Autoindustrie geriet damit in jenes „Innovator’s Dilemma“, das der US-Ökonom Clayton Christensen beschrieben hat. Sein Theorem besagt, dass etablierte Unternehmen die Tendenz haben, zu lange an ihren erfolgreichen Geschäftsmodellen festzuhalten. Sie reagieren damit zu spät auf disruptive Innovationen und laufen damit Gefahr, am Ende unterzugehen. In gewissem Sinn steckt Europa selbst in einem „Innovator’s Dilemma“. Sein erfolgreiches „Geschäftsmodell“ – das ist nicht allein die Wirtschaft. Es ist der relative Wohlstand, die Demokratie, die Freiheit. Es sind die geistigen und kulturellen Potenziale, die der Kontinent aus seiner vielfältigen Geschichte schöpft. Es ist vielleicht all das, was Europa heute lebenswert macht. Innovation hat einen Doppelcharakter: Einerseits verbinden wir sie mit Fortschritt. Vom Neuen erwarten wir in der Regel, dass es besser ist als das Alte, dass es Probleme löst und ungestillte Bedürfnisse befriedigt. Innovation ist „der berechtigte Anlass für die Hoffnung, dass es besser wird“, wie Wolf Lotter in seiner Streitschrift „Innovation“ schreibt. Andererseits bedroht Innovation auch das Althergebrachte, sie untergräbt alte Geschäftsmodelle und stellt bewährte Überzeugungen infrage. Wirtschaftliche Entwicklung beruhe auf einem „Prozess der schöpferischen Zerstörung“, schrieb der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter. Für ihn lag darin kein Fehler des Systems, sondern eine „Methode der ökonomischen Veränderung“. Das Neue bringt Dinge in Bewegung, es erzeugt Stress. Das heißt aber nicht, dass Innovation das Alte und Bewährte vernichten muss.

Müssen wir bei jedem technologischen Wettrennen mitlaufen?

Seit einigen Jahren geistert das Schlagwort der „Technologiesouveränität“ durch die europäische Politik. Was genau darunter zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Der Begriff Souveränität selbst kann unterschiedliche Bedeutungen haben. Zum einen meint er die politische Hoheit über ein territoriales Gebiet, zum anderen die Unabhängigkeit eines Staates. Souveränität im weiteren Sinn hat also mit Autonomie und Eigenständigkeit zu tun. So legt etwa das deutsche Bundesforschungsministerium den Begriff aus: „Technologische Souveränität bedeutet, selbst die Wahl zu haben, welche Technologien wir unter welchen Rahmenbedingungen einsetzen wollen“, wie es in einem aktuellen Impulspapier heißt.

Der Begriff beschreibe damit den „Anspruch und die Fähigkeit, Schlüsseltechnologien international auf Augenhöhe mitzugestalten“. Das könne erfordern, strategisch wichtige Lösungen und Produkte wieder in Europa zu entwickeln, wenn sie nicht „mit den aus europäischer Sicht notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten verfügbar sind“. Die Entwicklung und Anwendung von Schlüsseltechnologien könne dazu beitragen, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze und Wohlstand zu sichern, ohne dabei Kompromisse „zu Lasten unserer Werte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Nachhaltigkeit zu machen“. Schon der Tonfall verrät: In einem disruptiven, umstürzenden Sinn ist das nicht zu verstehen. Nicht zufällig bedeutet das Wort „Souveränität“ im alltäglichen Sprachgebrauch auch „Sicherheit“ und „Überlegenheit“: Wer „souverän“ handelt, der weiß, was er oder sie tut. So jemand lässt sich nicht auf halsbrecherische Abenteuer ein, wie ein Elon Musk. Souveränität – das meint auch Ruhe und Besonnenheit.

Wer heute über „europäische Technologiesouveränität“ redet, der sollte nicht bloß über Quantencomputer, über KI und Wasserstoff und sonstige „Schlüsseltechnologien der Zukunft“ reden. Technologische Souveränität, das ist nicht einfach ein Hightech- Förderprogramm, sondern vielmehr eine Haltung. Wir müssen technologische Innovation nicht als gnadenlosen Zerstörungsprozess begreifen. Wir können uns selbst entscheiden, welche Veränderung wir wollen und welche nicht. „Das Neue soll nicht schocken, sondern überzeugen“, schreibt Lotter. „Auch das gehört zu einer Innovationskultur, die in die Wissensgesellschaft passt: die Freiheit, bei dem bleiben zu dürfen, was man hat.“

Technologische Souveränität, das bedeutet auch Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Mündigkeit. Sie kann auch gelebte Freiheit im Umgang mit dem Neuen sein. Wir müssen nicht in jedem technologischen Wettkampf mitrennen, wenn wir ihn ohnehin nicht gewinnen können. An eine europäische Alternative zu Google, Facebook & Co. können heute nur hoffnungslose Optimisten glauben. Wir müssen „Deep Learning“-Algorithmen auch nicht ihrer Emergenz überlassen, bis sie womöglich die Menschheit überholen, wie niemand anderer als Elon Musk einmal prophezeit hat. Wir können auch auf „vertrauenswürdige“ KI setzen, die strenger Regulierung unterliegt – einfach, weil wir in Europa es so wollen. Ähnliches gilt für den Datenschutz. Sicher sollte sich Europa einer technologischen „Kolonialisierung“ widersetzen, vor allem aber einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Jürgen Habermas) – jener Lebenswelt, die wir in Europa eben aus guten Gründen schätzen.

Technologische Souveränität erreichen wir nicht ohne Technologie, ohne Innovation. Aber es steht uns frei, wie wir Innovation in einem „europäischen“ Sinn definieren – als Neuerung und Transformation, die dem Menschen dient und ihn nicht unterwirft. Gerade europäische Universitäten könnten und sollten ihren Beitrag zu einem Verständnis von Innovation leisten, das sich nicht in leeren Schlagwörtern und Marketing-Formeln erschöpft, sondern die Dialektik von Neuem und Altem immer wieder neu und multiperspektivisch zu begreifen versucht.

Technologische Souveränität in einem tieferen Sinn muss dabei weder eine aufklärerische Tradition bemühen noch einen romantischen Europabegriff . Es genügt vielleicht, von einer Vorstellung auszugehen, wie wir in diesem Europa leben – und weiterhin leben wollen. Jede Innovation gründet auf Versuch und Irrtum, aber auch auf der Erfahrung, was zu unserer Art zu leben „passt“ und was nicht. Selbst Google musste lernen, dass die Menschen nicht mit einer Datenbrille herumlaufen wollen, die womöglich das Gegenüber ausspioniert. Elon Musk hatte schon recht, als er meinte, die Europäer sollten doch ihre Ziele höher stecken. Aber das Ziel muss eben nicht sein, den Mars zu besiedeln. Es würde vielleicht schon reichen, unser Leben auf der Erde besser zu machen – und den Lebensraum Erde für künftige Generationen zu bewahren.