„Wir sind uns wohl alle einig, daß [sic] es die Aufgabe von Bildung ... war, ist und wahrscheinlich bleiben wird, die Jugend auf das Leben vorzubereiten. Wenn dies aber der Fall ist, dann steht die Bildung (einschließlich der universitären Bildung) jetzt vor der tiefsten und radikalsten Krise in ihrer an Krisen reichen Geschichte“, erklärte der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman in einem Vortrag an der Universität Padua.1 Er bezog sich dabei auf seine Theorie der „Liquid Modernity“, die er so beschrieb: „Die Formen des modernen Lebens können sich in einiger Hinsicht unterscheiden – aber was sie alle verbindet, ist genau ihre Zerbrechlichkeit, Zeitlichkeit, Verwundbarkeit und Neigung zu ständigem Wandel.“2 Ein Phänomen, das gerade jetzt eine dramatische Bestätigung erfährt.
Doch funktioniert unser aktuelles Bildungs- und Wissenschaftssystem im Wesentlichen noch immer nach den Prinzipien des Industriezeitalters des 18. und 19. Jahrhunderts: Wissensproduktion, Wissenserwerb, Wissensvermehrung durch intellektuelle Arbeitsteilung. Die Fragmentierung der Wissenslandschaft ist in den letzten Jahrzehnten rasant vorangeschritten. Im Jahr 2018 gab es etwa 42.500 aktive wissenschaftliche Peer- Review- Zeitschriften, die zusammen über drei Millionen Artikel pro Jahr veröffentlichten. Alle zehn Sekunden erscheint ein wissenschaftlicher Artikel.
Parallel dazu ist die Welt immer komplexer geworden. Es scheint: Alles hängt mit allem zusammen. Ein Schiffsunfall im Suezkanal legt Fabriken in Europa lahm. Eine kranke Fledermaus auf einem chinesischen Markt dürfte eine weltweite Pandemie verursacht haben, die unser Sozialverhalten auf den Kopf stellt, mehrere Millionen Todesopfer und enorme wirtschaftliche Schäden fordert.
Fast ein Jahrhundert, nachdem Heisenberg die Unschärferelation formulierte und seine Theorie der Quantenmechanik die Paradigmen der Physik und sogar der Philosophie gebrochen hat, sind wir immer noch gewohnt, weitgehend in isolierten disziplinären Silos mit fragmentiertem Wissen nach linearen Kausalitätsmustern zu argumentieren und zu handeln.
Während die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten gleichzeitig von der Komplexität einer wachsenden Zahl und in ihren Wechselwirkungen immer unübersichtlicher werdenden Faktoren bestimmt werden, versuchen Politik und Wirtschaft verzweifelt, die lineare Gestaltungslogik des Industriezeitalters aufrechtzuerhalten.
Bildung und Wissenschaft orientieren sich am Paradigma eines Erkenntnisfortschritts, der primär innerhalb von Disziplinen oder subdisziplinären Nischen definiert und anhand von quantitativen bibliometrischen Indikatoren gemessen wird. Dass komplexe Wirkungsmechanismen immer öfter die Grenzen einer wissenschaftlichen Disziplin überschreiten, wird in unserem Bildungs- und Wissenschaftssystem weitgehend ausgeblendet.
Schon 2009 hat der European Research Area Board einen Paradigmenwechsel im Denken und in der Rolle der Wissenschaft gefordert: Ein neues „holistisches Denken“ sei notwendig, Wissenschaft und Forschung sollten „mehr auf die systemischen Effekte achten als auf die engen Ziele“. „Preparing Europe for a New Renaissance“ war der bemerkenswerte Titel des Berichts.3
Der International Science Council, ein Dachverband der prominentesten Forschungsorganisationen aus der ganzen Welt, wie z.B. die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der FWF, die Royal Swedish Academy of Sciences, die Schweizerische Akademie der Wissenschaften, die US National Academy of Sciences, die British Academy, hat 2021 einen Bericht veröffentlicht, in dem er die Notwendigkeit betont, „Innovation durch disziplinübergreifende Zusammenarbeit anzuregen“. Man müsse „die gegenwärtigen globalen Herausforderungen als miteinander verflochtene natürliche und soziale Probleme verstehen und gestalten und daher den Sozial- und Geisteswissenschaften sowie der Kunst eine herausragende Führungsrolle zuweisen, ohne die wichtigen Beiträge der Naturwissenschaften, der Ingenieurwissenschaften und der Medizin zu negieren“.4
Bei all dem darf die so dringend gebotene Interdisziplinarität nicht gegen die Vertiefung in den Disziplinen ausgespielt werden. Der unbedingt notwendige Blick über den Tellerrand braucht ein starkes disziplinäres Rückgrat. Interdisziplinarität gelingt meist dort am besten, wo exzellente Vertreterinnen und Vertreter ihres jeweiligen Faches an gemeinsamen fachübergreifenden Projekten arbeiten. Interdisziplinäre Strukturen bedürfen – meist in Form eines iterativen Prozesses – immer wieder des Rückgriff s auf die Exzellenz in den Disziplinen. Wie der Deutsche Wissenschaftsrat daher zu Recht betont, sind Disziplinarität und Interdisziplinarität zugleich konstitutive Elemente des modernen Wissenschaftssystems.5 „Disziplinäre und interdisziplinäre Ansätze können gleichermaßen sachgerecht sein und sind daher grundsätzlich gleichwertig.“
Es ist in der Tat bemerkenswert, dass herausragende Institutionen des globalen Forschungssystems einen Wandel der Wissenschaftskulturen einfordern, weil „das Wissenschaftssystem derzeit nicht so organisiert und motiviert ist, dass Wissenschaftler effektiv dazu beitragen können, Antworten auf globale existenzielle Bedrohungen zu finden und umzusetzen“.6
Die Erkenntnis, dass wir den drängenden globalen Herausforderungen nicht mit „more of the same“ begegnen können, sondern dass wir in Forschung und Lehre die business-as-usual-Ansätze verlassen müssen, scheint an Boden zu gewinnen.
Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde der klassische Kanon der Kulturtechniken – Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen – durch die Fähigkeit zur digitalen Artikulation und Kommunikation ergänzt. Alle, die diese Fähigkeit nicht beherrschten, wurden als digitale Analphabeten mit sozialer Ausgrenzung bestraft und hatten signifikante Nachteile am Arbeitsmarkt zu erleiden.
Jetzt muss dieser Kanon der Kulturtechniken neuerlich erweitert werden.
Die Vermehrung des Wissens in den einzelnen Spezialdisziplinen wird wie gesagt weiter unverzichtbar sein, aber zusätzlich muss unser Bildungssystem die Kompetenz zur Vernetzung von Wissen verstärken – auf einer Ebene, die mit Algorithmen (noch) nicht erreichbar ist und deren Zielrichtung bereits das geltende Universitätsgesetz vorgibt: „Die Universitäten sind berufen, der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, der Entwicklung und der Erschließung der Künste sowie der Lehre der Kunst zu dienen und hiedurch auch verantwortlich zur Lösung der Probleme des Menschen sowie zur gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt beizutragen.“
Es ist hoch an der Zeit, der kreativen Synthese von Wissen nun mindestens ebenso große Wichtigkeit in unserem Bildungs- und Forschungssystem zuzuerkennen wie der Vermehrung des Wissens. Ungewöhnliche Verbindungen herstellen, Perspektiven wechseln, mit Ungewissheit, Unvorhersehbarkeit und Mehrdeutigkeit arbeiten; deshalb brauchen wir auch das Alphabet der Kunst im Prozess gesellschaftlicher Innovationen in Zeiten radikaler Umbrüche.
1 Bauman, Zygmunt (2011), Liquid modern challenges to education, Lecture given at the Coimbra Group Annual Conference – Padova, 26 May 2011
2 Bauman, Zygmunt (2000), Liquid Modernity, Polity Press, Cambridge, UK
3 European Commission (2009), Preparing Europe for a New Renaissance, A Strategic View of the European Research Area
4 International Science Council (2021), Unleashing Science: Delivering Missions for Sustainability, S. 33
5 Deutscher Wissenschaftsrat (2020), Wissenschaft im Spannungsfeld von Interdisziplinarität und Disziplinarität – Positionspapier, S. 47 f
6 International Science Council (2021), Unleashing Science: Delivering Missions for Sustainability, S. 17