Wir brauchen sie. Wir haben sie um und in uns, ob wir wollen oder nicht. Doch macht es einen gehörigen Unterschied, ob wir uns der Kultur, unserer Kulturen bewusst sind. NORBERT TRAWÖGER begibt sich auf ihre Spuren.
Vor geraumer Zeit hat ein Kulturveranstalter erzählt, dass er nicht selten Ansagen in der Qualität wie „Lass mi in Ruah mit da Kultur“ zu hören bekommt. Dialektreimen darf heutzutage beunruhigt misstraut werden. Dies wäre gerade so, als ob wir Menschen auf Luft verzichten könnten, von der Liebe soll erst gar nicht die Rede sein.
Wir brauchen sie, die Luft und die Kultur. Wir haben sie um und in uns, die Kultur und die Luft. Ob wir wollen oder nicht. Doch macht es einen gehörigen Unterschied, ob wir uns der Kultur, unserer Kulturen bewusst sind. Wir leben sie tagtäglich in bunter Diversität, ob als Esskultur, Hochkultur oder Subkultur. Wir, Österreicherinnen und Österreicher, frönen mitunter hemmungslos der Trinkkultur. Wir können eine Kultur des Diskurses oder des Umgangs pflegen, auch die Freikörperkultur ist eine und die Ansammlung von nicht mit freiem Auge sichtbaren Kleinzellern bildet eine Bakterienkultur. Den Begriff der Willkommenskultur, die Abreisezentren zeitigt, will ich hier nicht eingehender strapazieren. Unwissenheit schützt nicht vor Kultur.
Aber was ist sie denn eigentlich genau, die Kultur, von der es so unzählige gibt? Streng physikalisch betrachtet bestehen wir Menschen aus Zwischenräumen, die mit viel Wasser gefüllt sind. Zwischen uns ist nichts als lebenserhaltende Luft. Die emotionale Ebene klammere ich bewusst aus. Unsere Festheit ist also eine Illusion. Das Außen konfrontiert das Innen, wirkt aufs Innen nach außen, bewirkt, erzwingt Veränderung, erinnert uns im besten Fall ans bewusste Atemholen, um zu sich zu kommen und klar denken zu können. „Positiv denken heißt, nicht denken!“, lautet einer meiner Lieblingssätze von Ilse Aichinger. Was nicht meint, dass man nicht positiv denken, sondern dass man sich denkend der ganzen unbeschönigten Welt stellen soll, um letztlich doch wohlgestimmt zu guten neuen Möglichkeiten aufbrechen zu können. Mit Bedacht, da steckt auch Denken drin. Wie in Zumutung der Mut umfangen ist, um nicht auf diese ungeheuer wichtige Tugend zu vergessen, alleine der Demut wegen, die nichts anderes wie Mut zum Dienen ist. Dienen am Menschsein, am Miteinandersein. Und da sind wir wieder bei der Kultur.
Eine Grundeigenschaft der Kultur ist Wandlungsfähigkeit, die Fähigkeit zur Veränderung und Erweiterung. „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.“, hat ausgerechnet der Principe von Lampedusa, der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa geschrieben. Wenn wir uns bewegen, sollten wir uns des Bodens gewahr sein, von dem wir kommen, auf dem wir leben. Kultur hat viel mit Boden zu tun. Und wenn unsere Festheit eine Illusion ist, dann ist die Kultur jenes Zwischenland, in dem wir Orientierung finden. In meinem Fall – und ich bin vermutlich nicht der einzige, der dies teilt – ist dieses Land lange grundbevölkert durch Ingredienzien wie Weihrauch, Walzer, Gabel, Löffel und Messer, griechischen Wein von Udo Jürgens und Grünen Veltliner aus dem Burgenland, Bruckners Klangkathedralen und Schachtelsätze von Thomas Bernhard, Kirchtürmen in jedem Ort, vierkantige Bauernhöfe, Most oder flügelverleihende Energiegetränke, die ich genauso wenig mag wie Lieder aus dem Musikantenstadl, aber es hilft nichts. Sie gehören zu uns, müssen aber nicht gehört werden.
Wir leben in einem ehemaligen Vielvölkerstaat zwischen Zauberflöte und Mozartkugeln, Seen und Granithügeln, Autobahnen mit überdimensional vielen Raststationen, wo Kaffee und Kipferl angeboten werden. Typisch österreichisch, nicht? Dabei darf ich an die Türkenbelagerungen erinnern, die uns den Kaffee, die „Entführung aus dem Serail“ oder den unverkennbaren Klang unserer geliebten Blasmusiken beschert haben: Tschinelle, Triangel und Trommel stammen von den Janitscharen. Das ist wahre Volkskultur und Vereinnahmung eine kulturelle Strategie.
Wie steht es um unsere Kultur? Wie steht es um die Toleranz, die letztlich eine Transittugend ist? Toleranz verlangt von uns vorerst zu dulden, was uns widerstrebt. Und Duldung kann nur ein Zwischenzustand sein, hin zum wirklich Nahewerden oder eben auch zum Fernbleiben. Das klingt alles sehr anstrengend, wirft Fragen auf, nur um uns für Momente sicher sein zu können. Kultur wird durch unsere Wurzeln geprägt. Woher wir kommen. Sie ist aber auch das unbekannte, sich verändernde Land, in das wir gehen. Wir selbst prägen sie, prägen sie uns aus. Die Fragen, die die Kunst aufwirft, die alten, wie die alten neuen oder die neuen, sind dabei ein Sehnsuchtsraum unbestimmter Geografie, so sehr dieser doch oft verortet ist. Ist es dieser Ort, an dem wir immer wieder neu Bewusstsein erlangen? An dem wir uns delektieren und an dem wir irritiert werden können? Im Bewusstsein steckt Wissen! Ich wünsche uns eine Kultur als offenes Feld, auf dem Winde aus allen Richtungen und Ursprüngen wehen, die uns ins und aus dem Konzept bringen, uns lebendig halten. Ein Feld, auf dem eine Frage der nächsten folgt, Antworten als Möglichkeiten erschlossen werden können. Ein Möglichkeitsraum, der vor allem ein Raum möglicher Unmöglichkeiten ist. Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Herkunft uns in vielem determiniert, uns auch Grund, Halt gibt und Wertmuster etabliert hat, derer wir uns durchaus nicht immer bewusst sind. Die Habsburger Monarchie liegt mehr als hundert Jahre hinter uns Österreicherinnen und Österreichern. Und doch ist das hierarchische Denken, der Gehorsam in unserem Land fast unangetastet geblieben, fragen Sie nur einen Hofrat oder einen Professor. Bei allem Respekt fragen wir uns doch einmal, warum wir uns bei Festakten von den Sitzen erheben, wenn die Spitzen unseres Staates einziehen? Das Gedächtnis an die längst vergangene Kultur und ihre Üblichkeiten ist ein ausdauerndes, es sitzt uns wie eine Art Ur-DNA in den Knochen. Wie Bruckners Orgelspiel in den Wänden der Basilika von St. Florian eingebrannt ist: Das einst Hörbare ist völlig lautlos da. Kultur ist mitunter lautlos hörbar da. Unkultur kennt allerdings selten eine Lautstärkenbeschränkung. Wir brauchen mehr Eigenbewusstsein, dass Spielräume für das Ungreifbare, Fragwürdige, Wunderbare, Schräge, Unterhaltsame, Einschläfernde wie Aufrüttelnde notwendig sind. Erstarrung macht uns eng und verdächtig sicher. Wir brauchen die Kulturräume für das Experiment, das Unberechenbare, das Unmögliche, das uns zum Staunen bringt, langweilt oder irritiert. Gerade in diesem Raum fühlen wir Verbindung mit dem Vertrauten und dem Fremden. Kultur ist ein Feld der Empathie, wenn wir es wirklich betreten. Betreten heißt, uns damit auseinandersetzen, sich dazuzusetzen, sich einlassen und befragen zu lassen: eine Bewusstwerdung im Offenen. Plätze respektvollen und ungehemmten Diskurses sind in unseren Breiten wenig etablierte Oasen. Hierzulande lieben wir das Lob, die Überhöhung, sonst wird schnell mit Majestätsbeleidigung reagiert. Ich sehne mich nach einer Kultur der Neugier. Unsere Festheit mag eine Illusion sein und doch brauchen wir eine Verbindlichkeit, die uns an uns selber und aneinander hängt, im Staunen oder in der Ohnmacht, im In- oder Ausland. Kultur ist ein Möglichkeits- und Bewusstseinsraum. Diesen wandelbar festen Grund brauchen wir zum Aufbrechen in die Gegenwart, in der der Status quo auf Herausforderung steht. Wer Fragen stellt, ohne die Antwort schon lange zu wissen, ist sich und damit uns am ehesten auf der Spur. Kultur ist das, was daneben, dazwischen, darüber, darunter und darin ist. Fragen Sie danach und Sie werden es immer wieder von neuem erfahren.
Kultur braucht Veränderung und Anverwandlung. Ganz in diesem Sinne haben sich die Salonräume im Sommer verändert, verfeinert, erfrischt und erfreuen sich einer neuen Beleuchtung. Stellen wir uns im Kepler Salon wieder endlos gemeinsam Fragen, denn Wissenwollen schützt vor Unkultur!
Hier, öffnet in einem neuen Fenster geht's zur Website des Kepler Salons.