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Verbrechen und Strafrecht

In weiten Teilen der Welt wird die Todesstrafe geächtet. In manchen jedoch erlebt sie zurzeit eine Renaissance. Aber sind höhere Strafen bis hin zu diesem Extrem überhaupt ein geeignetes Mittel, die Kriminalität einzudämmen?

Von Benedikt Kommenda

Strafrecht

Gefängnisstrafen gehören zu den härtesten Sanktionen, die ein Staat zur Durchsetzung der Rechtsordnung verhängen kann. Überboten werden sie nur von der Todesstrafe, die in Europa längst abgeschafft ist, in anderen Teilen der Welt jedoch wieder vermehrt praktiziert wird. So hat Amnesty International im jüngsten Jahresbericht eine „besorgniserregende Zunahme von Todesurteilen und Hinrichtungen“ festgestellt, die Junta in Myanmar vollstreckte erstmals seit Jahrzehnten Todesurteile im ehemaligen Burma, im Iran hat nach längerer Zeit wieder eine öffentliche Hinrichtung stattgefunden, in Singapur wurde kürzlich die fünfte Hinrichtung seit März gemeldet und prorussische Separatisten in der Ostukraine drohen ausländischen Kämpfern die Erschießung an.

Doch wie steht es überhaupt, auch außerhalb von Kriegszeiten, um die Wirksamkeit von Strafen? Wirken strengere Sanktionen besser als mildere, halten sie Menschen eher davon ab, auf die schiefe Bahn zu kommen und Verbrechen zu begehen?

Das ist im Kern die Frage, mit der sich Helmut Hirtenlehner beschäftigt. Der Linzer des Jahrgangs 1970 ist Professor am Institut für Procedural Justice der Johannes Kepler Universität Linz, sein Fokus liegt auf rechtssoziologischen Phänomenen rund um den Versuch von Staaten, rechtstreues Verhalten mit Zwangsmaßnahmen zu fördern.

Was berechtigt den Staat eigentlich dazu, Menschen einzusperren oder ihnen strafweise höhere Geldbeträge abzuverlangen? Die gängige Antwort liefert die Strafrechtswissenschaft: Der massive Eingriff in die persönliche Freiheit oder ins Recht auf Eigentum ist dadurch gerechtfertigt, dass der Staat die Begehung von Straftaten zu verhindern trachten soll und daher auch darf. Und zwar auf zweierlei Weise: Zum einen mittels der Generalprävention, welche die Allgemeinheit von Delikten abhalten soll, zum anderen mittels Spezialprävention, die an die individuelle Person adressiert ist. Diesen Zielen ist auch das österreichische Strafgesetzbuch verpflichtet.

Dass Strafen abschreckend wirken, ist oft zweifelhaft

Die Unterscheidung des Kriminologen Hirtenlehner ist feiner verästelt. Der Zweig Generalprävention teilt sich in eine positive Form und eine negative. Mit der positiven ist Normverdeutlichung gemeint, erläuterte Hirtenlehner bei seiner Antrittsvorlesung am Institut für Procedural Justice, also die Stärkung des Rechtsgefühls und des Rechtsbewusstseins, indem Verbote verinnerlicht werden. Die negative Generalprävention erfolgt hingegen durch Abschreckung potenzieller Täter, erreicht durch Furcht vor Strafe und damit durch Einschüchterung. Die gleiche Abschreckung spielt, neben der angestrebten Besserung des Einzelnen und der Sicherung der Bevölkerung vor ihm, auch bei der Spezialprävention eine Rolle.

So weit die Theorie. Die Empirie, der Hirtenlehner sich verschrieben hat, zeigt allerdings ein ernüchterndes Bild. Denn so mancher Parameter, den man gemeinhin für ausschlaggebend bei der Abschreckung halten mag – und der von der Politik auch gerne als wichtiger Hebel dargestellt wird –, entpuppt sich als nahezu unbedeutend. „Wenn überhaupt etwas wirkt, ist es die Sanktionswahrscheinlichkeit“, sagt Hirtenlehner. „Die Strafhöhe hat praktisch keine Bedeutung.“ Anders ausgedrückt: Ob maximal fünf oder zehn Jahre Gefängnisstrafe für ein Verbrechen drohen, ist für die Wahrscheinlichkeit, ob es begangen wird oder nicht, irrelevant. Kündigt die Politik an, härtere Strafen einzuführen, so mag sie zwar Handlungsfähigkeit signalisieren, aber eine Verringerung der Kriminalität ist daraus nicht ohne weiteres zu erwarten.

Selbst dort, wo für schwerste Delikte die Todesstrafe verhängt werden kann, bleibt die möglicherweise erwartete Abschreckungswirkung aus: Staaten oder – in den USA – Bundesstaaten mit Todesstrafe haben laut Hirtenlehner keine geringere Tötungskriminalität als solche ohne Kapitalstrafe. Im Gegenteil: Es würden manchmal sogar mehr Menschen umgebracht, was Hirtenlehner als einen „Brutalisierungseffekt“ der ultimativen Strafmaßnahme interpretiert.

Eine weitere Variable, die nach Hirtenlehners Erkenntnissen praktisch bedeutungslos ist, ist die Schnelligkeit von Sanktionen. „Wir wissen zwar aus der Lernpsychologie, dass eine rasche Reaktion auf Fehlverhalten steuernd wirkt – aber nur dann, wenn die Sanktion sofort erfolgt, also binnen Sekunden oder Minuten“, sagt Hirtenlehner. Davon ist die Strafverfolgung im Rechtsstaat freilich weit entfernt, denn da setzt es Strafen zumeist nach Monaten, manchmal nach einem Jahr und mehr. „In dem Ausmaß, wie das Kriminalsystem die Dauer von Verfahren variieren kann, ist die Schnelligkeit nicht entscheidend. Ob das Urteil nach drei, sechs oder neun Monaten gesprochen wird, macht kaum einen Unterschied.“

Und wie ist es, wenn ein Strafverfahren zehn Jahre und mehr dauert, wie im Fall des früheren Finanzministers Karl-Heinz Grasser? Solche Extremfälle bleiben, da statistisch nicht relevant, außer Betracht. „Aber leider Gottes sind genau das die Fälle, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden“, bedauert Hirtenlehner.

Das Risiko, erwischt zu werden, wird eher überschätzt

Was viel mehr lohnt, ist der Blick auf die erwähnte Sanktionswahrscheinlichkeit. In Fragebogenstudien erweist sie sich als eine der wichtigeren Stellschrauben für die Abschreckung. Zwar wird das Risiko, erwischt und verurteilt zu werden, generell eher überschätzt, berichtet Hirtenlehner. „Die Menschen wissen recht wenig über die gerichtliche Sanktionspraxis und objektive Sanktionierungsrisiken.“ Dringt man aber bei der Befragung tiefer in die individuelle Situation der Befragten ein, so kommen bemerkenswerte Erkenntnisse zutage: Personen, die viele kriminelle Freunde haben, können die Strafwahrscheinlichkeit realistischer einschätzen, nämlich niedriger als die Allgemeinheit. „Ja klar, sie können ,erste Reihe fußfrei‘ beobachten, dass die meisten Straftaten nicht geahndet werden“, so Hirtenlehner.

Das hat zweierlei Folgen. Zum einen besteht die Gefahr, dass Menschen mit „kriminellen Peers“ durch gruppendynamische Prozesse dazu angeregt werden, selbst ebenfalls zu delinquieren. Zum anderen zeitigt eine Erhöhung der Entdeckungswahrscheinlichkeit in dieser Gruppe am ehesten eine abschreckende Wirkung. Hirtenlehner: „Die Effekte der Sanktionierung sind zwar auch hier nicht überragend, aber doch größer. Und es sind immerhin genau die Personen, die man erreichen will, nämlich diejenigen mit erhöhter Tendenz zur Kriminalität – genau die will man abschrecken.“ Daher: „Dort, wo es nötig ist, wirkt sich die Sanktionswahrscheinlichkeit ein bisschen besser aus.“

Was nachweislich generell stark wirkt, ist eine hohe Polizeidichte. „Da gehen die Menschen von einer höheren Entdeckungswahrscheinlichkeit aus“, erklärt Hirtenlehner. Er schränkt allerdings gleich ein: „Es geht nicht nur um die Größe der Polizei, sondern auch um deren Strategie und Effektivität.“ Denn, so Hirtenlehner weiter: „Wenn man drei Polizisten mit dem Auto durch die Gegend fahren lässt, hat das nicht denselben Effekt, wie wenn immer derselbe Polizist durch ein Grätzel wandert.“

Und wie steht es, bei all der mehr oder weniger erfolgversprechenden Mühe um Abschreckung, um die eingangs erwähnte „positive Generalprävention“, also die Stärkung des Rechtsbewusstseins durch Änderungen im Strafrecht? „Das ist ein massiv unter erforschtes Gebiet“, konstatiert der Kriminologe. Das Hauptproblem ist, dass es kaum Möglichkeiten gibt zur empirischen Beobachtung. Man müsste nämlich entweder zwei oder mehr Gesellschaften haben, die völlig gleich sind mit Ausnahme einer bestimmten Strafbestimmung. Die gibt es aber naturgemäß nicht. Zu vielfältig sind die Faktoren, die rund um das Strafrecht das Rechtsempfinden beeinflussen.

Alternativ müsste man eine Gesellschaft im Zeitverlauf beobachten, vor und nach einer Änderung strafrechtlicher Bestimmungen. „Da haben wir aber das Problem, dass in aller Regel ein Einstellungswandel den Gesetzesänderungen vorausgeht“, sagt Hirtenlehner. Somit führt ein geändertes Unrechtsbewusstsein eher zu Gesetzesänderungen – ein schon historisches Beispiel wäre die Straffreiheit für den (zivilrechtlich weiterhin rechtswidrigen) Ehebruch –, als dass umgekehrt eine veränderte Rechtslage zu einem neuen Rechtsgefühl führte.

Hirtenlehner resümiert: „Man darf nicht zu viel Vertrauen in die abschreckende Wirkung gerichtlicher Straftätigkeit setzen.“ Aber wie soll man sonst einer höheren Kriminalität entgegenwirken? „Wir kommen immer wieder zum selben Punkt: Wer die Kriminalitätsrate niedrig halten will, sollte eher auf Sozialpolitik und Gelegenheitsprävention achten.“ Hirtenlehner nennt ein „triviales Beispiel“, wie er selbst sagt: „Wenn eine Parkbank aus Holz ständig ruiniert wird, ist es besser, sie durch eine gemauerte Bank zu ersetzen.“