Die Wiedergeburt von alten Wahnideen und Idiotien – und was dagegen zu tun ist. Vortrag zum 50. Geburtstag des Instituts für Soziologie an der JKU.
Vielleicht gibt es schönere Zeiten, hat Jean-Paul Sartre gesagt. „Aber dies ist unsere Zeit.“ Unsere Zeit. Im Frühjahr des Jahres 2017 steht man bisweilen an der Schwelle vom Zweifel zur Verzweiflung. Es ist, als habe die Weltgeschichte den Weltstaubsauger eingeschaltet, der die bisherigen Sicherheiten wegsaugt. Es ist, als säßen an den Reglern der Saugleistung Leute wie Erdoğan und Trump und Le Pen, als säßen dort die Populisten und Nationalisten, diejenigen, von denen man gern geglaubt hätte, dass ihre Zeit vorbei sei. Es ist, als säßen dort, an den Reglern des Weltstaubsaugers, auch – immer und immer wieder – die Terroristen. Es ist, als saugten sie die bisherigen Grundgewissheiten weg und den Boden der Gewissheiten gleich mit. Die Welt wird, diese Angst packt einen bisweilen beim Hören der täglichen Nachrichten, bodenlos.
Der Glaube daran, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sich, und sei es langsam, weiterentwickeln, der Glaube an den Fortschritt der Aufklärung ist erschüttert; er hat tiefe Risse. Aleppo, der Südsudan, Jemen, Afghanistan, Mossul – das alles ist Tausende Kilometer weg, aber die eigene Hilflosigkeit ist nahe. Und wenn man sich von der Außenpolitik abwendet und sich der europäischen, der österreichischen und der deutschen Politik zuwendet – so richtig wohlig wird einem dann auch nicht.
Die Weltzuversicht vieler Menschen ist zerborsten. Die Gewissheit schwindet, etwas Sinnvolles tun zu können, die Gewissheit, dass jeder seine kleine oder größere Welt besser machen kann. Selbst manchen von denen, die mit Herzblut Flüchtlingen geholfen haben, kam das Grundvertrauen abhanden, damit Gutes getan zu haben. Die Gewissheit ist einem Ohnmachtsgefühl gewichen, dem Gefühl, einem Sog ausgesetzt zu sein. Es ist ein Sog der Fremdbestimmung; auf den Einzelnen scheint es nicht mehr anzukommen.
Flüchtige Existenzen
Immer mehr Menschen meinen, sie seien von „der Globalisierung“ austauschbar gemacht worden, die vermeintlich über sie kommt wie eine göttliche Schicksalsmacht. Sie leben, sie gehen, mobil wie keine Generation zuvor – aber auf welches Ziel hin? Vielen erscheint ihr Lebenslauf wie der Lauf des Hamsters im Rad. Die Flüchtlingsexistenz wird zum Merkmal der heutigen Zeit. Denn das Gefühl der flüchtigen Existenz haben auch Menschen in den Ländern, in die sich die Flüchtlinge flüchten. Viele Menschen in Europa erleben die Flüchtlinge als Boten eines Unglücks, das auch ihnen auflauert. Also wehren sie sich gegen die Fremden, um ihnen nicht gleich zu werden; sie sehen die Fremden als Menetekel. Das ist der Boden, auf dem die alten Wahnideen, auf dem der Nationalismus und der Rassismus wachsen.
Das frühe 21. Jahrhundert ist ein merkwürdiges Zeitalter: Zivilität und Aufklärung, hoch entwickelt, aber offenbar nur bedingt abwehrbereit, ringen überrumpelt mit ihren Verächtern. Diese Verächter führen das große Wort, das im Internet, via Facebook und Twitter, noch viel größer gemacht wird, als es ist, und der 45. Präsident der Vereinigten Staaten geriert sich als ihr bellender Wortführer. Die Verfassung der Vereinigten Staaten hätte, könnte sie die Farbe wechseln, rot werden müssen vor Scham, als Donald Trump den Eid auf sie leistete. Schon sein Wahlkampf hat gezeigt, dass sie ihm nichts bedeutet. Er hat die Rechte der Minderheiten verhöhnt und die Religionsfreiheit missachtet. Er hat die Frauen verächtlich gemacht und seine politische Konkurrentin bedroht. Der Glaube an die Stärke des Rechts, der sich in der sogenannten westlichen Welt seit 1945 entwickelt und diese leidlich zusammengehalten hat, wird angegriffen vom asozialen alten Glauben an das Recht des Stärkeren; der wiederum wird gespeist von neuen nationalen Egoismen und Egomanien. Der sogenannte Rechtspopulismus, eine niedliche, verharmlosende, unzulässig verallgemeinernde und daher falsche Bezeichnung für eine gefährliche Sache, ist eine Entbürgerungs- und Entrechtungsbewegung.
Populismus und Pompeji
Viele Beschreibungen des sogenannten Rechtspopulismus als einer global-eruptiven Erscheinung ähneln der Schilderung eines Vulkanausbruchs. Man tut so, als sei mit dem sogenannten Rechtspopulismus ein Vesuv, als seien weltweit viele Vesuve zugleich ausgebrochen, als gieße sich nun Aggression wie Lava in die Gesellschaft und als regne es nun Hass wie glühende Asche. Das sind phlegmatische Beschreibungen, weil man damit so tut, als könne man dagegen eigentlich nichts machen außer, sich in Haus und Wohnung zu flüchten und die Tür hinter sich zu verriegeln. Das ist, das wäre politischer Fatalismus. Nicht vor dem sogenannten Populismus muss man sich fürchten, sondern vor solchem Phlegma.
Es ist bitter, wenn das Wort Zukunft vom Frohwort zum Drohwort wird. Das darf nicht passieren. Der populistische Extremismus und der neue aggressive Nationalismus sind keine Naturgewalten, sie sind nicht zwangsläufig, sie kommen nicht einfach unausweichlich auf uns zu. Es gibt keine Zukunft, von der man sagen könnte, dass es sie einfach gibt, dass sie einfach über uns kommt. Zukunft ist nichts Feststehendes, nichts Festgefügtes, Zukunft kommt nicht einfach – es gibt nur eine Zukunft, die sich jeden Augenblick formt: je nachdem, welchen Weg ein Mensch, welchen eine Gesellschaft wählt, welche Entscheidungen die Menschen treffen, welche Richtung die Gesellschaft einschlägt. Zukunft ist darum in jedem Moment auch veränderbar.
Die populistischen Extremisten haben das verstanden. Sie sind, wo sie an der Macht sind, mit Brechstange und Dampframme dabei, die Zukunft zu verformen: Sie entlassen – siehe Türkei – Richter, Lehrer, Beamte; sie stampfen Menschenrechte in den Boden; sie machen die Europäische Union verächtlich und wollen den alten Nationalstaat wieder aufrüsten. Sie wollen Großbritannien, Frankreich, Ungarn, Polen, die Niederlande oder Österreich „great again“ machen. EU-Länder sollen groß werden, indem sie sich wieder klein machen? Die populistischen Extremisten sind nicht nur mit brachialem Werkzeug unterwegs, sondern auch mit spitzer Feder dabei: Ihre Schreiber und Kommunikatoren erfinden eine moderne philosophische Einkleidung der alten völkischen und rassistischen Ideologie. Sie formen eine Zukunft, die Krieg, Spaltung und Brutalität heißt, eine Zukunft, die zynischerweise genau jene zuerst auf eben das Kreuz legen wird, das sie hinter die extremen Parteien setzen.
Welche Zukunft wollen wir haben?
Die Frage ist nicht, welche Zukunft man hat oder erduldet, die Frage ist, welche Zukunft man haben will und wie man darauf hinlebt und hinarbeitet. Die Frage ist nicht, was auf die Gesellschaft zukommt, sondern wohin sie gehen will. Betrachten wir das Ringen um die Zukunft am Beispiel Europa. Am Beispiel Europa lässt sich die Wiederkehr der alten Wahnideen besonders gut beobachten: Eine nationalistische Front macht quer durch Europa Front gegen Europa; sie macht Front gegen die Werte der Aufklärung, gegen die Achtung von Minderheiten; sie macht Front gegen die Werte, die in der Französischen Revolution erkämpft und grundgelegt wurden; sie macht Front gegen Liberalität und Toleranz. Sie macht auch Front gegen ein Europa der offenen Grenzen, sie sucht das Heil also wieder dort, wo einst das europäische Unheil begonnen hat. Die nationalistische Front zäunt ihre nationalen Parzellen ein, sie rollt Stacheldraht aus und hält das für zukunftsgerichtete Politik. Aber je mehr sich eine Zivilisation einmauert, umso weniger hat sie am Ende zu verteidigen.
Die Europäer sammeln ihre Kräfte, wissen aber nicht so recht, wo und wie sie sie einsetzen sollen. Die Anti-Europäer wissen es schon. In Großbritannien wurde in einer Volksabstimmung der Brexit beschlossen. Er basierte auf einer Kampagne, die der Europäischen Union die Schuld an der Einwanderung gab und den Ausländern die Schuld an sämtlichen Missständen. In Deutschland trommelt die AfD gegen Europa. In Österreich gibt es antieuropäisches Potenzial. In Frankreich agitiert Marine Le Pen gegen Europa. In Italien sind die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega Nord manifest antieuropäisch. Im Ungarn des Viktor Orbán sind die proeuropäischen Kräfte derzeit ohne jede Chance. Polen wird prononciert nationalistisch regiert, in Tschechien regieren nationalistisch-narzisstische Parteien, in der Slowakei wird kein einziger muslimischer Flüchtling aufgenommen.
Der Anti-Europäismus hier wie anderswo in Europa geht einher mit Hasskampagnen gegen Ausländer und Flüchtlinge, gegen Einwanderung und Migration. Die Anti- Europäer glauben, das Leben würde mit dem Ende des europäischen Projekts wieder einfacher, übersichtlicher und sicherer. Das bedeutendste Projekt der neuzeitlichen europäischen Geschichte steht auf dem Spiel. Neben den Furiengesängen von Rechtsaußen erklingt von links das Lied, dass die undemokratische EU-Bürokratenclique unreformierbar sei. Die Zukunftsmusik, die einmal im Namen »Europa« steckte, wird ersetzt durch nihilistische Kakophonie.
Zwanzig Jahre lang, seit dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens im Jahr 1995, konnten sich die Bürger dieses Kontinents so frei bewegen wie nie; nie gab es in Europa so wenig Schranken, Grenzen, Hemmnisse; Millionen von Urlaubern haben das in ihren Ferien auch im Wortsinne erfahren. Soll dieses Europa, kaum aufgeblüht, schon wieder verblühen?
Nationalismus mit anti-nationalistischer Wirkung
Nationalisten werden die Leute genannt, die die Sehnsucht nach Europa für eine Krankheit halten und die zur Heilung von dieser Krankheit „Österreich zuerst“, „Ungarn zuerst“, „Frankreich zuerst“ oder „Polen zuerst“ rufen. Diese Rufer sind aber keine Nationalisten, sondern in Wahrheit Anti-Nationalisten, weil sie ihrem Land die Zukunft nehmen. Europa ist ein anderes Wort für Zukunft; trotz seiner Konstruktionsfehler, trotz seiner demokratischen und sozialen Defizite.
Indes: Dieses Europa hat die Nationen und ihre Menschen vor einem wildgewordenen Kapitalismus nicht geschützt, sondern sie ihm ausgeliefert; auch das erklärt den Zulauf, den die Anti-Europäer haben. Viel zu viele haben nichts von Weltbürgertum gespürt. Sie haben den Niedergang ihrer kleinen sozialen Welt erlebt, den Verfall ihrer Städte, das Wegbrechen der sozialen Sicherheit. Schön, wenn man ohne Grenzkontrollen reisen kann. Schlecht, wenn immer häufiger das Geld fehlt, solche Reisen zu unternehmen. Der Niedergang der britischen Industrie und die Aufblähung des Londoner Finanzplatzes, die Erosion der Mittelschicht, die wachsende Spaltung zwischen Arm und Reich in den europäischen Gesellschaften, die dramatische Jugendarbeitslosigkeit in den europäischen Südstaaten sind auch eine Folge dieser Politik. Sie war ein Fehler, sie war ein Verbrechen. Aber dieser Fehler beschreibt nicht das Projekt Europa, er beschreibt seine Irrwege und Abgründe.
„Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise, vermutlich der tiefsten in ihrer Geschichte, das ist weitgehend unumstritten.“ So oder so ähnlich beginnen Hunderte, so beginnen Tausende von aktuellen Texten; so oder so ähnlich sagen es Politiker und Publizisten; so oder so ähnlich empfinden es Millionen von Menschen in Europa. Das war schon vor dem Brexit so; aber dieser Brexit gilt nun als Indiz dafür, dass der Anfang vom Ende eingeleitet sein könnte. Wir alle in Europa, nicht nur die Engländer, haben es uns schon lange angewöhnt, über Europa zu mäkeln und zu maulen, wie es Schüler über die Schule tun. Wir haben es uns angewöhnt, über die Bürokratie von Brüssel zu klagen, über die Demokratiedefizite, über den Wirrwarr der Richtlinien, über die Flüchtlingspolitik, über den Euro und die Rettungsschirme.
Das Wunder Europa
Alle Klagen sind berechtigt. Aber: Wir haben verlernt, das Wunder zu sehen – die offenen Grenzen, die gemeinsame Währung, das gemeinsame europäische Gericht, die gemeinsamen Gesetze. Wir haben immer weniger das gesehen, was gut ist, wir haben immer mehr gesehen, was schlecht läuft. Die europäische Politik, also die Politik des Europäischen Rats und die Politik der Europäischen Kommission, hat das Wunder verwundet; immer mehr Menschen in Europa haben nur noch die Wunden gespürt. Und wer mit den eigenen Wunden beschäftigt ist, ist selten bereit, sich um Verwundete von anderswo zu kümmern. Ein Teil der Ressentiments gegen die in Europa schutzsuchenden Menschen erklärt sich auch daher. Trotz alledem: Dieses Europa ist das Beste, was den Deutschen, den Franzosen und Italienern, den Österreichern und den Dänen, den Polen und Spaniern, den Tschechen und den Ungarn, den Flamen und Wallonen, den Niederländern und Griechen, den Schotten, den Basken, den Balten und Bayern in ihrer langen Geschichte passiert ist. Dieses Europa wurde gebaut aus überwundenen Erbfeindschaften, es ist die späte Verwirklichung so vieler alter Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht haben. Die Europäischen Verträge sind die Ehe- und Erbverträge ehemaliger Feinde. Dieses Europa ist ein welthistorisches Friedensprojekt.
Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Zweiten Weltkrieg gilt es allerdings immer mehr Europäern als Selbstverständlichkeit, denn als Errungenschaft. Aber das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich; ein Blick vor die Tore Europas, ein Blick in den Nahen und Mittleren Osten zeigt, wie wenig selbstverständlich ein unkriegerischer Kontinent ist. Millionen von Menschen in kriegsverwüsteten Staaten haben Sehnsucht nach dieser Selbstverständlichkeit. Europa als Friedensstabilisator ist keine Reminiszenz, sondern eine Zukunftsnotwendigkeit. Dieses Europa ist die Vollendung der Französischen Revolution. Es ist der glänzendste Stern der Aufklärung, es ist ein Jahrtausendprojekt. Doch es wird nur dann funktionieren, wenn aus einem Binnenmarkt ein wirkliches Gemeinwesen wird; ein Gemeinwesen also, in dem die Interessen der Bürger nicht Abschreibungsmasse sind. Wenn die Bürger so behandelt werden, schreiben sie Europa ab.
Drei europäische Leiden
Heute leidet die Europapolitik an drei Dingen: Sie leidet erstens an zu wenig Demokratie. Sie leidet zweitens daran, dass sie unsozial ist. Und drittens fehlt ihr, deswegen, eine Marseillaise. Europa ist ein nüchternes Projekt geworden, man kann es nicht singen. Aus der europäischen Euphorie der Nachkriegszeit wurde europäische Lethargie.
Das muss sich ändern. Europa braucht eine Reform an Haupt und Gliedern. Europa braucht eine Transformation. Europa braucht eine Vision. So eine Vision ist mehr als ein Antidepressivum; sie ist ein Elixier. Die Menschen müssen erfahren, erleben und erspüren, dass Europa ihr Leben leichter, nicht schwerer macht. Sie müssen erfahren, erleben und erspüren, dass Europa die Probleme anpackt, die ein einzelner Staat nicht mehr lösen kann. Und die Menschen müssen vor allem erfahren, erleben und erspüren, dass Europa nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch und vor allem eine soziale Angelegenheit ist. Europa braucht eine Transnationalisierung der Demokratie; und es braucht eine Transnationalisierung der sozialstaatlichen Grundgarantien. Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen.
Zeit, auch Menschen zu retten
Die Menschen in Europa wollen spüren, dass diese EU für sie das ist und nicht zuvorderst für Banken und den internationalen Handel. Sie wollen unter Sicherheit nicht nur die innere, sondern auch die soziale Sicherheit verstanden wissen. Bei der Euro-Rettung wurden bekanntlich ungeheuer große Schutzschirme für Banken und Euro aufgespannt. Aber: Gerettet wurden und werden nicht Menschen. Gerettet werden Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme; sie sollten überleben. Ob und wie Menschen dabei überleben, war sekundär. Das muss sich ändern. Ausgerechnet die Stichworte Reform und Bürokratieabbau sind für viele Menschen in Südeuropa Schreckensworte geworden. Sie stehen für eine Politik der Deregulierung, der Privatisierung und des Sozialabbaus, die sie arm macht und ihnen die Jobs raubt. Es ist diese eine Medizin, die bisher nicht heilend, sondern eher als Gift für den Zusammenhalt Europas gewirkt hat. Ja, diese Politik muss ein Ende haben.
Die Gesellschaften vieler Staaten sehen sich in einem Spiel, das so ähnlich funktioniert wie die „Reise nach Jerusalem“. Die Teilnehmer stellen sich dabei neben den Stühlen auf, die im Kreis angeordnet sind. Sobald die Musik ertönt, laufen alle im Kreis um die Stühle herum. Wenn die Musik abbricht, muss jeder versuchen, sich möglichst schnell auf einen freien Stuhl zu setzen. Im Spiel scheidet stets ein Spieler aus, weil eine Sitzgelegenheit zu wenig aufgestellt ist. Im wahren Leben ist es viel schlimmer: Es unterscheidet sich in Spanien, Griechenland, Italien, Österreich oder Deutschland dadurch, wie viele Stühle weniger aufgestellt sind. Und weil die Musik zu selten spielt, bleiben die sitzen, die schon sitzen und die stehen, die schon stehen.
Eine mobile Gesellschaft ist das nicht. Es ist eine, in der Junge kaum Chancen haben. Europa muss, auch unter Einsatz von ungeheuer viel Geld, eine Chancenvermehrungsanlage für Jugendliche werden.
Um ein solches Europa zu bauen, braucht man Leidenschaft, das geht nicht mit Technokratensprech. Es gilt, eine populäre, verständliche Sprache zu sprechen, die an den Verstand appelliert und auch das Herz erreicht. Eine fantasie- und visionslose Kosten-Nutzensprache ist dazu genauso wenig in der Lage wie eine schulmeisterliche Expertensprache. Im Jahr des Reformationsjubiläums darf man da an Luthers Rat erinnern: Den Leuten aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden. Um ein gutes Europa zu bauen, muss man begeistern können.
Der gute Populismus
Um ein solches Europa zu bauen, muss man – ich nutze das Wort nun einmal positiv – populistisch sein. Das Wort Populismus, das Wort Rechtspopulismus wird in der aktuellen Debatte falsch eingesetzt. Es ist nicht der Populismus, der die Gesellschaft kaputt macht, sondern der populistische Extremismus. Der Populismus ist nur eine Art und Weise, für Politik zu werben. Jeder gute Politiker muss auch Populist sein, weil er seine Ideen, seine Politik so darlegen, vortragen und vertreten muss, dass sie verstanden werden und begeistern können – Alexander Van der Bellen hat im Wahlkampf um die Präsidentschaft in Österreich die Mittel des Populismus genutzt, um für Europa und eine aufgeklärte Demokratie zu werben. Er hat den Begriff Heimat und das, was Heimat ausmacht, gezielt und geschickt in seinem Wahlkampf eingesetzt. Der Bundespräsident war, er ist ein demokratischer Populist. Van der Bellen ist Anbiederung vorgeworfen worden. Aber man sollte lieber politische Klugheit darin sehen, dass er es nicht den Rechtspopulisten überlassen hat, populär zu reden und aufzutreten.
Ein demokratischer Populist ist einer, der an Kopf und Herz appelliert; ein demokratischer Populist ist einer, der die Emotionen nicht den extremistischen Populisten überlässt. Ein demokratischer Populist verteidigt die Grundrechte und den Rechtsstaat gegen dessen Verächter. Populistische Extremisten dagegen appellieren nicht an Herz und Verstand, sondern an niedrige Instinkte. Das ist der Unterschied. Das Wort Populismus ist untauglich, um die Phänomene, die damit üblicherweise gemeint sind, angemessen zu beschreiben. In dem, was Rechtspopulismus genannt wird, verbirgt sich Extremismus – ein rassistischer Nationalismus, Xenophobie und Verfassungsverachtung.
Das Wort Populismus ist vom übermäßigen Gebrauch so überdehnt und ausgeleiert wie ein alter Gummiring. Das Wort Populismus wurde und wird dazu genutzt, um zusammenzubringen, was nicht zusammengehört, Rechte und Linke: Leute wie Marine Le Pen in Frankreich, Beppe Grillo in Italien, Norbert Hofer in Österreich, Boris Johnson in England, Frauke Petry und Alexander Gauland in Deutschland; den Griechen Alexis Tsipras, den Bolivianer Evo Morales und den Venezolaner Hugo Chávez. Das Wort Populismus taugt für fast nichts mehr; nur noch zur Verharmlosung der Demokratieverächter. Demokratie- und Verfassungsverachtung ist aber kein Populismus, sondern Extremismus. Dem populistischen Extremismus hat es geholfen und hilft es immer noch, dass mit der Bezeichnung »Populismus« sehr freizügig und großzügig umgegangen wurde und wird.
Wer, wie dies die Extremisten tun, die Feinderklärung in die Demokratie trägt, wer dem Volk das „Anti-Volk“ als Feind gegenüberstellt, wer behauptet, das Monopol der authentischen Repräsentation zu haben, wer für sich allein die Führerschaft beansprucht und sich anmaßt, die alleinige Stimme des Volkes zu sein, wer ein moralisches Monopol für sich behauptet und damit Grundrechte und Grundwerte aushebeln will – der ist ein Feind der Demokratie. Man soll, man darf ihn nicht zum Populisten verharmlosen.
Bessere Heimat Europa
Ich sagte es schon: Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat in seinem Wahlkampf viel von Heimat geredet. Das hat er richtig gemacht. In Österreich und Deutschland leben zwei Drittel der Menschen in Dörfern, in Klein- und in Mittelstädten – also in der Provinz. Österreich und Deutschland sind zu zwei Dritteln Provinz. Diejenigen, die sich für das Wort Provinz schämen, sagen lieber Region; meinetwegen. Provinz ist ein gutes Wort und ein guter Platz, um sich heimisch zu fühlen. Er muss es bleiben oder wieder werden. Die Welt zur Heimat zu machen, das fängt in Kleinkleckersdorf an. Es fängt damit an, dass es dort eine Poststelle, einen Bäcker und einen Arzt gibt und ein Krankenhaus in erreichbarer Nähe. Gute Lokalpolitik lockt also nicht einfach nur Investoren in den Ort, sie stärkt die Grundversorgung, den sozialen Zusammenhalt und die gewachsenen Traditionen ihrer Bürger – und ihre Offenheit für die, die neu kommen. Es geht um Heimat. In flüchtigen Zeiten Heimat schaffen – das ist Politik gegen den populistischen Extremismus. Warum? Weil die Menschen Wurzeln brauchen. Wurzeln geben Halt. Was ist Heimat? Heimat ist, so viel steht fest, mehr als eine Postleitzahl, mehr als eine Adresse, mehr als eine Immobilie.
Heimat Demokratie? Wenn Demokratie gelingt, wird sie zu Heimat für die Menschen, die in dieser Demokratie ihre Zukunft miteinander gestalten. Heimat Sozialstaat? Wenn der Sozialstaat funktioniert, ist er Heimat für die Menschen. Beschimpfen kann den Sozialstaat nur der, der keine Heimat braucht. Und den Abriss wird nur der verlangen, der in seiner eigenen Villa wohnt. Ob er sich dort noch sehr lange wohlfühlen würde, ist aber fraglich. Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat; und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Er schafft es, dass die Menschen trotz Unterschieden in Schicksal, Rang, Talenten und Geldbeutel sich auf gleicher Augenhöhe begegnen.
Heimat Europa?
Wenn Europa nicht mehr nur eine Union für die Wirtschaft wäre sondern, für die Menschen, dann könnte Europa langsam zur Heimat werden.
2019 ist die nächste Europawahl, die neunte Direktwahl zum Europäischen Parlament. Die Europäer werden für ein junges, ein sich reformierendes Europa kämpfen müssen wie nie, weil spätestens diese Europawahl die Antwort geben muss auf die neuen Nationalismen und die neuen Aggressivpopulismen. Es geht um die Antwort auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wir brauchen keinen Backlash, wir brauchen ein starkes Europa, wir brauchen ein Europa der Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen nicht mehr Europa; wir brauchen nicht weniger Europa. Wir brauchen ein besseres Europa.