Gedanken von HARALD MARTENSTEIN, warum wir die Welt gar nicht anders wahrnehmen können, als wir es gerade tun. Und warum er trotz allem Optimist bleibt.
Zurzeit lese ich „Über Menschen“, den neuesten Roman der in Deutschland sehr erfolgreichen Autorin Juli Zeh. Ihre Protagonistin Dora lebt mit einem radikalen Öko- und Klimaaktivisten zusammen, es ist keine ganz einfache Beziehung. Naturgemäß benutzt Dora keine Plastikbeutel. Eines Tages erfährt sie, dass die Herstellung eines Baumwollbeutels bedeutend mehr Energie verbraucht als die Produktion einer Plastiktüte. Um einen positiven Effekt für Umwelt und Klima zu erzielen, müsste man jeden Baumwollbeutel mindestens 130 Mal benutzen. Dora besitzt 30 Baumwollbeutel, das wären 3.900 Einkäufe, zu schaffen in etwa 25 Jahren.
Einfach gesagt: Die Dinge sind komplex. Baumwolle wächst nach, Erdöl nicht – wie gewichtet man diese Tatsache, bezogen auf den hohen Energieverbrauch beim Baumwollanbau und bei der Beutelproduktion? Und wie preist man die Verschmutzung der Meere durch Plastiktüten in die Ökobilanz ein, ein Problem, das sich wohl kaum ohne einen weitgehenden Verzicht auf dieses Produkt lösen lässt? Andererseits ist da der Wald. Er wird gerodet, um Platz für landwirtschaftliche Produktion zu schaffen, vermutlich auch für Baumwolle.
Ist das, was auf den ersten Blick richtig erscheint, wirklich das Richtige? Doras Freund stellt sich solche Fragen gar nicht erst, er verhält sich so, wie es in seinem Milieu üblich ist, also sozial durchaus klug. Dora verlässt ihn auch deshalb, weil er auf jede Frage eine einfache Antwort hat.
Menschen sind weniger vernunftgesteuert, als sie es von sich glauben, wenn sie in den Spiegel schauen. Das wissen wir spätestens seit Sigmund Freud und Karl Marx. Ängste, Triebe, die Prägungen der Kindheit, unsere sozialen Interessen, der Wunsch nach Anerkennung, das und vieles mehr steuert uns. Sicher, wir besitzen ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit, aber wir sind eben nicht ganz Herr (oder Dame) im eigenen Haus. Ohne Vorurteile zum Beispiel könnten wir nicht leben. Es würde uns überfordern, jede Situation und jeden Menschen immer wieder neu einzuschätzen, das dauert zu lange, deshalb greifen wir auf unsere Erfahrungen und das in uns vorhandene Meinungsrepertoire zurück. Unsere Wahrnehmung ist selektiv. Sie muss es sein, weil die Wirklichkeit selbst für das leistungsfähigste Gehirn der Erde zu komplex ist.
Der Klimawandel soll durch eine radikale Senkung des CO2-Ausstoßes zumindest begrenzt werden. Um das zu erreichen, ist ein Umbau der Wirtschaft und des Verkehrswesens sowie eine Änderung unserer Lebensweise erforderlich, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern global. Es handelt sich um das vielleicht ehrgeizigste Projekt der bisherigen Menschheitsgeschichte. Wandel hat es immer gegeben, aber er vollzog sich, wie der Prozess der Industrialisierung, langsamer und er brachte den Menschen Vorteile, die sie recht bald spürten. Das Klima-Projekt ist defensiv, es soll dafür sorgen, dass sich am Klima wenig ändert. Die Einzelnen spüren zuerst Nachteile, in Form von Steuererhöhungen und höheren Energiepreisen, als Veränderung ihrer gewohnten Landschaft, als Verlust von individueller Mobilität. Ich halte es für ausgeschlossen, dass dieses Projekt sich in dem gewünschten Tempo ohne ein autoritäres Regime durchsetzen ließe, manche seiner Verfechter*innen sprechen diese Wahrheit auch ganz offen aus.
Parallel dazu gibt es ein Menschheitsproblem, das mit dem Klima und dem Ausstoß an CO2 eng zusammenhängt. Es besitzt ebenfalls das Potenzial, diesen Planeten unbewohnbar zu machen und das an relativ unberührten Naturgebieten, was es noch gibt, restlos zu zerstören. Über Bevölkerungswachstum wird ungern geredet, obwohl aus den heute acht Milliarden Menschen bis 2100 etwa elf Milliarden geworden sein dürften. Dass die Erde unbegrenzt viele Menschen aushält, ohne zu kollabieren, ist extrem unwahrscheinlich. In Mali zum Beispiel, das zum größten Teil aus Wüste besteht, lebten 1960 rund fünf Millionen Menschen, 2050 werden es 43 Millionen sein, eine wirtschaftliche Grundlage für ihre Existenz gibt es nicht. Wer darüber spricht, riskiert den Vorwurf des Rassismus. Die Weißen wollten nicht, dass sie auf der Erde immer mehr zur Minderheit werden. Mali lebt vor allem von Finanzhilfen, ein großer Teil davon kommt aus Europa. Wo es Wohlstand und einen Sozialstaat gibt, stoppt das Bevölkerungswachstum, aber beider Voraussetzung war bisher die konsumistische Lebensweise, die in der Klimadebatte oft und nicht zu Unrecht angeprangert wird.
Nach dem Atomunfall von Fukushima, der in erster Linie keine technische Panne war, sondern Folge einer Naturkatastrophe und falschen Standortwahl für ein Kernkraftwerk, hat Deutschland den Ausstieg aus der Kernkraft beschlossen, eine Art Fluchtreflex. Auch das macht die Lösung des Klimaproblems bei uns schwieriger. Auch das war eine zu einfache Antwort auf eine komplexe Frage. Sollte man nicht eher versuchen, aus Fehlern zu lernen?
Widersprüche, wohin man schaut. Ich vertraue nicht auf die menschliche Vernunft, und die Lösung unserer Probleme erhoffe ich mir weder von „Bewegungen“ aller Art noch von Parteien (obwohl ich jedes Parteienregime jeder Diktatur vorziehe). Unsere Wahrnehmung wird immer selektiv sein, und wir werden immer, zum Teil wenigstens, von irrationalen Impulsen und von Gefühlen gesteuert sein. Mein Optimismus gründet sich auf die menschliche Neugier und den menschlichen Wissensdrang. Neugier war das, was uns zu Herrschern der Welt gemacht hat, das Lernvermögen, die Methode „try and error“. Wenn wir die Corona-Pandemie überwinden, verdanken wir das den Wissenschaftler*innen, die einen Impfstoff entwickelt haben, nicht den Regierungen und ihren oft widersprüchlichen, impulsgesteuerten Maßnahmen. Die Orte, an denen sich die Zukunft der Menschheit entscheidet, auch die Zukunft des Klimas, werden wahrscheinlich die Universitäten, die Labore und die Forschungsinstitute sein. So lange dort frei und ohne politische Vorgaben oder Tabus nachgedacht werden darf, bleibe ich Optimist.
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