Der Zirkus des Wissens schafft an der JKU einen ganz besonderen Ort, an dem Wissenschaft durch Theater auf ganz andere Art auf ein ganz anderes und junges Publikum trifft. Zirkusdirektor Airan Berg über seine Aufgaben in der Manege, den Zirkus namens Leben und den Zauber von Wissen.
Hier ist alles erlaubt. Im Zirkus des Wissens der JKU helfen uns Clowns und Wissenschaftler*innen, Schauspieler*innen und Roboter, die Welt auf spielerisch lustvolle Weise ein bisschen besser zu verstehen. Als Zirkusdirektor trägt Airan Berg nicht nur einen Zylinder, sondern auch einen Haufen Ideen mit sich herum. Welche Verblüffungen seinem Zirkus- Publikum bevorstehen und aus welchen persönlichen Lebensetappen er seine Begeisterung für die kleinen Wunder zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen digitaler Revolution und Klimaerwärmung beatmet, erzählt der Co-Gründer von „Theater ohne Grenzen“, der kosmopolitische Impulsgeber, ehemalige künstlerische Geschäftsführer des Schauspielhauses Wien, Leiter der darstellenden Kunst von Linz09 und künstlerische Leiter des Festivals der Regionen (2019, 2021) im Interview mit der Kepler Tribune.
Welche Leerstelle wollen Sie mit dem Zirkus befüllen?
Die Vision stammt von Rektor Meinhard Lukas. Er hat initiiert, dass dieses Theater auf dem Campus gebaut wird. Wie Sie wissen, rastet eine Universität auf drei Säulen: Forschung, Lehre, Vermittlung. Lukas ist die Vermittlung an zukünftige Wissenschaftler* innen enorm wichtig. Spannend ist, dass ausgerechnet an einer Universität, die nichts Künstlerisches lehrt, ein Theater existiert, das mit Inhalten vorhandener Fachbereiche bespielt wird. Damit schaffen wir andere Narrative über sehr komplexe Themen. Das bedeutet: Wir erklären Kindern Wissenschaft, damit wir sie selbst besser verstehen. Wobei der Zirkus nicht nur für Kinder gedacht wird, sondern für alle Menschen, die ihre kindliche Neugierde nicht verloren haben und Lust an Neuentdeckungen haben.
Auf welche Barrieren des akademischen Systems sind Sie bisher gestoßen?
Alle Lehrenden und Forschenden, mit denen ich bisher zu tun habe, sind extrem offen. Wo ich noch viel Arbeit sehe, ist, die Studierenden zu gewinnen. Die Frage ist, wie motiviere ich diese Gruppe, dass sie sich nach einem langen Tag in Lehrveranstaltungen abends für unsere Inhalte begeistern. Da hat Corona viel zerstört, weil etliche Studierende monatelang physisch gar nicht an der Uni waren. Ich arbeite also daran, dass auch die Studierenden den Zirkus als ihr Theater sehen. Ein Punkt ist außerdem die dezentrale Örtlichkeit des Theaters, weil in diesem Bereich der JKU pro Tag nicht tausend Leute vorbeigehen. Also brauch’ ich eine riesige Tafel mit blinkendem Licht, die auf den Zirkus und seine Inhalte hinweist. Und es gehört zum Wesen einer großen Uni, dass die Leute voneinander vieles gar nicht wissen können. Auch hier kann der Zirkus einen wichtigen Beitrag leisten.
Was hat Sie selbst einst zur Kunst verführt?
Ich bin vor 61 Jahren in Tel Aviv geboren und wusste ab meinem fünften Lebensjahr, dass ich Theater machen will. Keine Ahnung, warum, es gab in meiner Umgebung keine theaterspielenden Menschen, aber alle Familienmitglieder mussten beim Essen am Shabbat leiden, weil ich zwischen Haupt- und Nachspeise etwas vorgespielt habe. Meistens zu einem Lied aus dem Kassettenrecorder. Erst vor ein oder zwei Jahren hab’ ich erfahren, dass mein Großvater mütterlicherseits jüdisches Amateurtheater im Schtetl in Polen gespielt hat.
Woher kommt Ihre Familie?
Dieser Großvater stammte aus Galizien, er übersiedelte wegen der Arbeit in die heutige Slowakei. Dort lernte er meine Großmutter kennen, die der jüdisch-ungarischen Minderheit angehörte. Die jüdische Familie meines Vaters sind Sudetendeutsche aus dem heutigen Tschechien. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten mussten beide Familien flüchten. Als meine Eltern vor kurzer Zeit meine Frau und mich erstmals bei uns zu Hause in Istanbul besuchten, sagte mein Vater auf der Terrasse: „Jetzt, da ich hier stehe, erinnere ich mich: Wir sind damals über den Bosporus nach Israel gekommen.“ Er war auf einem Cargo-Schiff versteckt.
Was hat Sie nach Österreich gebracht?
Weil mein Vater Deutsch konnte, wurde er 1972 gebeten, das Wien-Büro einer großen israelischen Import- Export-Firma aufzubauen. Ich war damals elf und konnte kaum Deutsch, weil wir zu Hause ausschließlich Hebräisch gesprochen haben. Deutsch redeten meine Eltern nur dann, wenn meine Schwester und ich nichts verstehen sollten. Diese Geheimsprache ist ihnen in Österreich verloren gegangen (lacht).
Woher haben Sie Ihre Theaterausbildung?
Ich hatte das Glück, an der Brown University in Providence (US-Bundesstaat Rhode Island, Anm.) bei James O. Barnhill III. – einem der tollsten Schauspiellehrer Amerikas – zu lernen. Ich hab’ inszeniert, gespielt, Bühnen- Management gemacht, und eigentlich wollte ich als Regisseur zum Broadway. Im letzten Semester gab es einen Kurs, der uns auf das Leben vorbereiten sollte. Viele berühmte Alumni kamen und erzählten, wie sie angefangen hatten. Jeder Student musste ein Interview mit einer dieser Persönlichkeiten führen. Mein Gesprächspartner war Harold Prince (1928-2019, legendärer Broadway-Regisseur, arbeitete als Co-Produzent mit Stephen Sondheim und Leonard Bernstein, inszenierte u.a. 1983 „Turandot“ an der Wiener Staatsoper, Anm.). Ich saß also im New Yorker Rockefeller Center im Büro von Harold Prince und er fragte mich plötzlich, ob ich bei einer Broadway-Produktion sein Assistent sein möchte. Danach bin ich zurück zur Uni, hab’ gesagt, ich hätte einen Job und zog nach New York – mit 23. Das Musical hieß „Grind“ und war ein Fünf-Millionen-Dollar-Flop. Kurz danach ist mein USA-Visum abgelaufen und Otto Schenk hat mich zu den Salzburger Festspielen vermittelt, wo ich bei Brandauers „Jedermann“ Regie- Assistent wurde. Der dortige Inspizient hat mich zum Burgtheater gebracht, es war das erste Jahr von Claus Peymann, und der suchte eben auch einen Assistenten. Aber die Intrigen und Machtkämpfe in derart großen Theatern haben mich bald nicht mehr interessiert. Ich bin später nach Bali, hab’ Maskentanz und Schattentheater studiert und ein Jahr lang auf Weltreise viele interessante Menschen kennengelernt – unter anderem in einer Garage in Australien Barrie Kosky (bis Sommer Intendant der Komischen Oper Berlin, inszenierte heuer bei den Salzburger Festspielen Leos Janaceks Oper „Kata Kabanova“, Anm.). Ab 2001 leitete ich mit ihm zusammen des Wiener Schauspielhaus.
Was hat Sie motiviert, den „Zirkus des Wissens“ an der JKU zu übernehmen?
An meiner Biografie sieht man, dass ich mich ungern wiederhole. Ich halte auch nichts davon, dass jemand 20 Jahre lang dasselbe Theater leitet. Durch Zufall hab’ ich gesehen, dass hier ein Zirkusdirektor gesucht wird – also dachte ich, das sei etwas für mich, ohne zu wissen, was genau gefragt ist. Bei Linz09 hab’ ich zwar schon eine Art Zirkus mit mehreren Manegen geleitet, aber ich hatte noch nie den offiziellen Titel „Zirkusdirektor“. Und unter anderem mit dem Linz09-Schulmodell „I like to move it, move it“ (75 zeitgenössische Theater-, Tanz- und Performance-Künstler*innen arbeiteten damals an 90 Schulen mit mehr als 2.000 Schüler*innen und 700 Lehrkräften prozesshaft im Regelunterricht, Anm.) war ich einer der Pioniere von Partizipations-Projekten. Ich bin kein Akademiker, ich bin kein Wissenschaftler – ich bin ein künstlerischer Forscher – und ich wusste, diese Rolle könnte mir an der Kepler Universität gefallen.
Dennoch, welchen Zugang haben Sie zur Wissenschaft?
Um meine jüdisch-österreichische Geschichte noch zu „verkomplizieren“, bin ich seit zwölf Jahren mit einer muslimischen Frau aus Istanbul verheiratet. In Istanbul leben wir auch. Sie ist Physik-Lehrerin, dadurch war ich plötzlich viel näher an der Wissenschaft. Also hab’ ich mich beworben – und wurde genommen.
Wer unterstützt Sie nun bei dieser Aufgabe?
Um mich herum hab’ ich 2.000 Forscherinnen und Forscher sowie 22.000 Studierende (lacht). Im Zirkus selbst muss vieles erst aufgebaut werden. Aber alles wird klein und fein bleiben, weil das Geld vor allem in die künstlerische Arbeit fließen soll.
Inwiefern müssen Sie mit dem Zirkus unser Bildungssystem nachbessern?
Ich hab’ schon einst darum gekämpft, dass „I like to move it, move it“ in Schulen fortgesetzt wird, aber es war ein politischer Kampf zwischen dem damaligen Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) und der einstigen Kulturministerin Claudia Schmied (SPÖ). Pühringer sagte, er könne eine Million Euro zur Verfügung stellen, sofern Schmied das auch tut. Das war dann doch nicht gewollt. Die Schule unterrichtet, was sie muss – nicht unbedingt der Neugier junger Menschen folgend. Ein Beispiel: Wir haben an der JKU das spannende Thema Umweltrecht: Es existiert die Idee von einem Parlament der Flüsse, in dem es darum geht, ob einem Fluss Rechte wie einer Person zugestanden werden. Als Konsequenz mit folgendem Gedankenexperiment: Darf der Fluss als Rechtsperson ein Unternehmen verklagen, das zu viel Chemikalien in sein Wasser schüttet? Das ist doch ein faszinierendes Projekt.
Wie betten Sie derart komplexe Themen ein?
Wir haben zum Beispiel Zwilling e erfunden, sie heißen Johanna und Jonas Kepler – das sind junge, coole, engagierte, neugierige Figuren. Sie treten etwa in eine Zeitreise ein und treffen auf Johannes Kepler. Schließlich wissen viele Studierende der JKU gar nicht, wer Johannes Kepler war. Johanna und Jonas werden Forscher*innen der Universität interviewen und das Ergebnis davon vermitteln wir in Comics. In unserem Schattentheater kommen sie außerdem als Figuren vor. Mit diesem Format kann man nicht nur Wissenschaft verständlich vermitteln, sondern auch Forschend e unterhaltsam vorstellen. Ich sag’ zu den Professor*innen immer: Ich bin sechs Jahre alt, man muss mir alles simpel erklären. So bekomme ich ein Bild von deren Arbeit, mit dem ich Kunstschaff ende konfrontiere. Im besten Fall beginnen dann Kunst und Wissenschaft einen Dialog, aus dem schräge, verrückte Kunstprojekte entstehen. Auch mit einem begleitenden Workshop-Format.
Spüren Sie einen Quotendruck?
Nein, aber ich hab’ ja meine eigenen Ansprüche. Es war nur der Wunsch, dass ich im Frühling 2022 mit dem Programm beginne. Ich hatte zwar Anfängerglück mit meinen Veranstaltungen, aber im Grunde ist der Erfolg des Zirkus erst nach Jahren ablesbar. Wichtig ist, dass die Projekte im Zirkus sowohl hohe künstlerische Qualität haben als auch wissenschaftlich wertvoll sind. Die kommenden Projekte sind sehr vielversprechend und ich freue mich schon auf die kommende erste richtige Saison, die am 1. Oktober mit einer theatralischen Bearbeitung des Buches „Dummheit“ von Heidi Kastner eröffnet wird. Die gesamte Saison werden wir Mitte September nach dem Ars Electronica Festival präsentieren. Weitere Infos gibt es ab Mitte September unter jku.at/zirkus-des-wissens