Simon Schnetzer ist einer der renommiertesten Jugendforscher im deutschsprachigen Raum. Ein Gespräch über das Nichtgehörtwerden, den stillen Protest und warum
nicht jede*r Influencer*in werden möchte.
Kepler Tribune: Herr Schnetzer, wie lange ist man heutzutage jung?
Simon Schnetzer: Jung ist man heute tatsächlich, solange man sich jung fühlt. Hochspannend ist aber die Phase des „Erwachsenwerdens“. Zum Zeitpunkt, ab dem Menschen nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für die Gesellschaft Verantwortung übernehmen, sind viele schon in ihren Dreißigern. Andere aber, die vielleicht schon arbeiten, seit sie 15 Jahre alt sind und mit Anfang 20 zwei Kinder bekommen haben, fühlen sich mit 30 vielleicht nicht mehr so jung.
Kepler Tribune: Was macht junge Menschen denn zu einer Generation?
Simon Schnetzer: Es handelt sich dabei gewissermaßen um Alterskohorten, also eine Gruppe ähnlicher Geburtsjahrgänge. Das was diese Gruppe zu einer Generation macht, sind die prägenden gesellschaftlichen und technologischen Einflüsse in ihrer Jugend. Der Generationen-Begriff hat es sehr viel leichter gemacht, gesellschaftliche Entwicklungen zu beobachten und darüber zu reden.
Kepler Tribune: Was verstehen Sie unter der „Generation Reset“, dem Begriff, den sie für die aktuell Heranwachsenden definierten?
Simon Schnetzer: Ich wollte der aktuell häufig verwendeten Bezeichnung „Generation Corona“ etwas entgegenstellen. Diese Generation will nicht für immer mit einer Krankheit in Verbindung gebracht werden. Aber sie hat dadurch einen Bruch erlebt. Wie beim Spiel „Mensch ärgere dich nicht“ waren sie gezwungen, trotz ihrer fertigen Pläne wieder zurück zum Ausgangspunkt zu gehen. Egal, was sie vorhatten, es war in der Pandemie nicht möglich.
Kepler Tribune: Und, mussten sie zurück zum Start?
Simon Schnetzer: Nicht nur das. Der Begriff „Reset“ impliziert auch die Frage: Wie können wir unsere Systeme jetzt besser machen? Diese jungen Menschen wollen nicht Opfer der Pandemie sein, sondern Digitalisierung, Bildung, Klimaschutz und gesellschaftliches Miteinander neu definieren.
Kepler Tribune: Fühlen sich junge Menschen denn so stark als Opfer?
Simon Schnetzer: In meinen Interviews höre ich immer wieder: Die Zukunft ist nicht mehr safe. Andere Generationen in Österreich oder Deutschland hatten das Gefühl, ein Leben in Wohlstand sei ihnen schon in die Wiege gelegt. So geht es der Generation Z, also den heute 11-26-Jährigen, nicht mehr. Das ist nicht erst seit der Pandemie so, sondern auch mit der Klimakrise oder der Flüchtlingsbewegung. Diese Generation erwartet sich jetzt von der Politik, dass sich etwas ändert.
Kepler Tribune: Ist das der Grund, warum Erstwähler:innen bei der deutschen Bundestagswahl deutlich anders gewählt haben als ihre Eltern und vor allem für die Grünen und die FDP? Vor allem der Erfolg der FDP hat viele überrascht.
Simon Schnetzer: Dank Fridays for Future haben wir das Bild von jungen Menschen im Kopf, die umweltorientiert sind. Dass die Grünen gut abgeschnitten haben, verwundert also nicht. Aber auch der Erfolg der FDP ist nachvollziehbar.
Kepler Tribune: Weil doch nicht alle Jungen die Welt retten wollen?
Simon Schnetzer: Weil die FDP den Wert der Freiheit vertritt, und weil im Werte-Ranking der Generation Z die Freiheit gleich hinter Vertrauen und Gesundheit an dritter Stelle steht. Die Freiheit aber wurde in der Pandemie sehr stark beschnitten. Die große Koalition hat sich nicht dafür interessiert, was junge Menschen bewegt. Damit hat sie sich ihr Vertrauen verspielt.
Kepler Tribune: Wie äußerst sich die Enttäuschung der Jugendlichen darüber, dass sie nicht gehört werden, noch?
Simon Schnetzer: Es ist vor allem ein innerer Protest, ganz viel kommt gar nie raus. Wenn ich eine Umfrage mache, gebe ich aber am Ende des Fragebogens immer die Möglichkeit, noch Kommentare zu hinterlassen. Da lese ich hundertfach: „Endlich fragt uns mal jemand!“ Ich begreife Jugendforschung als eine Form von Beteiligung junger Menschen. Indem wir ihre Bedürfnisse und Interessen sichtbar machen, können wir gemeinsam Politik und Gesellschaft verändern.
Kepler Tribune: Das Gefühl des Nicht-gehört-werdens kennen wir auch von Menschen, die Protestparteien wie die AFD in Deutschland oder die FPÖ in Österreich wählen. Besteht auch bei Jugendlichen die Gefahr, dass sie anfällig für Populismus werden?
Simon Schnetzer: Noch ist der Glaube an das System und daran, dass sich etwas verbessern kann, groß. Wir haben zudem ein hohes Wohlstandsniveau und innerfamiliär einen extrem guten Generationenzusammenhalt. Niemand würde jetzt pauschal sagen, dass alle Alten blöd sind und es nicht verdienen, eine Rente zu bekommen. Es stellen sich jetzt aber die Fragen: Wie geht es weiter? Wie können wir auch in Zukunft noch in Wohlstand leben?
Kepler Tribune: Zumindest ein Teil der Umweltschützer stellt deshalb auch den Kapitalismus als System in Frage. Gilt das für die junge Generation generell?
Simon Schnetzer: Sie sieht jedenfalls einen Systemkonflikt. Da braucht es die Beteiligung aller, um wirklich entscheiden zu können, wie wir weiterleben möchten.
Kepler Tribune: Die deutsche Klimaschutzaktivistin Carla Reemtsma sagte, dass die Fridays-for-future-Bewegung radikaler werden müsse. Das hat sofort auch Assoziationen zur RAF ausgelöst, der linksradikalen Terrororganisation, die für zahlreiche Morde verantwortlich war.
Simon Schnetzer: Solange es einem immer noch gut geht, wird man sich nicht radikalisieren, auch wenn man das System insgesamt schlecht findet. Man hat zu viel zu verlieren. Aber den Nährboden für Radikalisierung gab es zuletzt schon.
Kepler Tribune: Durch die Corona-Pandemie?
Simon Schnetzer: Im letzten Sommer haben junge Menschen in Parks friedlich gefeiert, obwohl Versammlungen der Größe für Ungeimpfte immer noch nicht erlaubt waren. Sie sind nicht losgezogen um Randale zu machen, aber sie wurden auch in dem bisschen Freiheit in den Parks eingeschränkt. Die Politik hat den jungen Menschen keine Perspektive für ihre Bedürfnisse gegeben. Und so geht es auch vielen Klimaaktivist*innen: Sie haben ein Gefühl von Ausweglosigkeit und gleichzeitig starker Dringlichkeit.
Kepler Tribune: Die Klimaaktivist*innen wurden zuletzt aber zumindest gehört. Wie müsste sich die Demokratie ändern, damit die Jungen insgesamt mehr Mitsprache haben?
Simon Schnetzer: Es bräuchte so etwas wie einen Jugend-Check oder einen Generationen-Gerechtigkeits-Check. Wir sollten uns bei allem, was politisch entschieden wird, auch fragen: Ist das auch tauglich für die nächsten 30 oder 50 Jahre? Können wir das der Welt zumuten? Oder ist das nur die Umsetzung einzelner Interessen, die maximal bis zur nächsten Wahl reichen?
Kepler Tribune: In Österreich und Deutschland sind ältere Generationen deutlich größer. Sie sind als Wähler*innen also wichtiger.
Simon Schnetzer: Umso wichtiger wäre ein Jugend-Check, auch um Themen wie das Pensionssystem oder die Klimaveränderung schnell auf die Agenda zu setzen. Die Herabsetzung des Wahlalters könnten wir uns ebenfalls ansehen, wobei die Jugend selbst ambivalent dazu steht. Eine andere Möglichkeit wären Quoten, also die verpflichtende Einbindung der jungen Generation in Entscheidungen. Auch die Parteien könnten sich bemühen, um etwa durch schnellere Aufstiegschancen attraktiver für Junge zu werden.
Kepler Tribune: Mit Politik hat zuletzt vor allem der Youtuber Rezo die Jungen in Deutschland erreicht.
Simon Schnetzer: Er hat 16 Millionen Klicks mit dem Video „Zerstörung der CDU“ und eine enorme Aufmerksamkeit für sein Thema geschaffen, ohne dass er sich davor politisch geäußert hätte. Da haben die Parteien gesehen, dass ihnen ihre bisherigen Kanäle, also die guten Kontakte zur Presse, wenig helfen, weil YouTube für sie nicht zu stoppen war.
Kepler Tribune: Warum sind nicht mehr Influencer*innen auf den Zug aufgesprungen?
Simon Schnetzer: Rezo hat sich mit seinem Video zur CDU auch angreifbar gemacht und viel Hate auf sich gezogen. Man muss es ihm hoch anrechnen, dass er seiner Linie treu geblieben ist. Dass nicht schon viel mehr Influencer*innen sich politisch äußern, liegt sicher auch daran, dass sie ein ganz klar kuratiertes Profil haben und es schwierig ist, das Thema Politik in die Kategorien „Beauty“, „Comedy“ oder „Fitness“ mit einzubringen. Dass sich einige mit Klimafragen schmücken, liegt sicher auch daran, dass beim Klimawandel ein recht allgemeiner Konsens herrscht. Es ist leichter zu sagen, man sei gegen den Klimawandel, als gegen eine bestimmte Partei.
Kepler Tribune: Neue Kanäle haben sich durch die Corona-Krise auch im Bildungssystem nun schneller etabliert. Wie erleben das die Betroffenen?
Simon Schnetzer: Vorlesungen fanden plötzlich nicht im Hörsaal, sondern per Videokonferenz statt, und die junge Generation stand vor vollendeten Tatsachen. Jetzt geht es darum, sie einzubinden, um diese Angebote besser zu machen.
Kepler Tribune: Wo liegt hier das Potenzial?
Simon Schnetzer: Es wird auf eine Hybridkultur hinauslaufen, und die gilt es jetzt gemeinsam gut zu gestalten. Einerseits tun sich Studierende gerne zusammen, um Ideen zu schärfen, gemeinsam Argumente zu finden und nicht alleine zuhause im Zimmer zu sitzen. Auf der anderen Seite werden in Zukunft viel weniger Studierende am Campus wohnen, ihre Vorlesungen überwiegend digital absolvieren und für ein oder zwei Präsenztage pro Woche pendeln.
Kepler Tribune: Wir werden in Linz eine neue Universität für Digitalisierung und digitale Transformation bekommen. Das sind so neue Themen, dass sich etwa die Frage stellt, ob sich diese Uni klassisch in Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und Technische Wissenschaften aufteilt oder ganz neu, zum Beispiel nach Themen organisiert?
Simon Schnetzer: Ich gehe noch einmal einen Schritt zurück: Der größte Wunsch der Jugend ist Selbstwirksamkeit und eine der größten Frustrationsquellen von Studierenden ist, dass sie Abschlussarbeiten schreiben, bei denen es nicht um ihre Interessen geht, sondern darum, ihren Profs einen Gefallen zu tun. Am Ende interessiert sich häufig niemand für das Ergebnis.
Kepler Tribune: Sie fühlen sich also wieder nicht gehört?
Simon Schnetzer: Sie fürchten, dass ihre Arbeit sinnlos ist, dass sie nichts bewirkt. Der jungen Generation ist es sehr wichtig, an Lösungen zu arbeiten, also etwas zu machen, dass eine gewisse Wirkung hat. Ich würde mich also nicht an einer Fakultät orientieren, sondern an einer Herausforderung, die wir als Menschheit zu leisten haben. Das könnte sich zum Beispiel schon im Titel einer Studienrichtung wiederfinden. Wie klingt etwa das Studium „Lösungen für eine lebenswerte Zukunft“?
Kepler Tribune: Mit einem Namen allein wird es aber nicht getan sein, oder?
Simon Schnetzer: Vielleicht geht es dann nicht nur um eine wissenschaftliche, sondern um eine wirkungsorientierte Arbeit, die andere Formate bedient als die klassische Bachelorarbeit. Wir müssen neue Formen des Messbarmachens von Leistung finden. Vielleicht macht es Sinn, einen Podcast zu machen, und ein Teil der Note setzt sich daraus zusammen, ob ich es geschafft habe, damit Reichweite zu erzielen?
Kepler Tribune: Auch wissenschaftliche Arbeit soll also gleich eine gewisse Wirkung entfalten?
Simon Schnetzer: Diese Generation lebt das jeden Tag. Wenn eine Vierzehnjährige ein Posting absetzt, hat sie das liebevoll kuratiert, hat sich Gedanken über Hashtags gemacht und das Bild perfekt bearbeitet. Sie postet es und wartet dann auf Reaktionen. Dieses Feedback in Form von Likes, Followern, Kommentaren oder Shares erwarten sich junge Menschen auch, wenn sie jetzt beispielsweise eine Abschlussarbeit schreiben oder einen neuen Job anfangen.
Kepler Tribune: Das heißt, dass Frust entstehen kann, wenn es dieses Feedback nicht gibt?
Simon Schnetzer: Dazu kann es kommen, ja. Vor allem aber verschenken wir kreative Energie junger Menschen, wenn wir ihnen diese Möglichkeiten nehmen, mehr aus ihrer Arbeit zu machen, als nur eine Note dafür zu bekommen.