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Zwischen Tech-Startups und Mao-Bibel
 

Der Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Weltmacht ist ohne sein Bildungssystem undenkbar. Doch gleichzeitig wird die akademische Freiheit an den Universitäten zunehmend beschnitten.

Von Fabian Kretschmer

Bildcredit: Jan Kováříček - 2020 - Studio Hani Rashid - Die Angewandte

Wer sich ins südchinesische Shenzhen begibt, kann einen beeindruckenden Blick in die Zukunft der Volksrepublik China erhaschen: Lediglich vor vierzig Jahren wurde das verschlafene Fischerdorf vor den Toren Hongkongs zur ersten Sonderwirtschaftszone auserkoren, ein Experimentierfeld für die wirtschaftliche Öffnung des Landes. Mittlerweile leben über 13,5 Millionen Menschen in dem neuntgrößten Finanzzentrum der Welt. In der futuristischen Innenstadt fahren bereits jetzt über ein Drittel aller Fahrzeuge mit Elektromotoren. Die neu asphaltierten Straßen werden von gläsernen Bürotürmen dominiert, allen voran das 599 Meter hohe Ping An International Financial Center. Auf nur wenigen Quadratmetern haben sich sieben der 500 mächtigsten Konzerne der Welt angesiedelt. Der mit Abstand größte unternehmerische Stolz Shenzhens ist jedoch zweifelsohne Huawei.

Im firmeneigenen Campus, eine Art Miniatur Silicon Valley inmitten von Palmen gesäumten Straßen und architektonisch verspielten Bürogebäuden, tüfteln die jungen Forscher an der neuesten Technik für den globalen Marktführer für Telekommunikationsausrüstung. In der Firmenmensa sitzt der 27-jährige Zhou Yuhao, ein schmächtiger Mann mit Nerd-Brille und wachen Augen. Wie viele junge Talente in China zog es auch Zhou nach seinem Ingenieursstudium für einen Master in die USA, das noch vor wenigen Jahren eine enorme Strahlkraft für die ambitionierte Jugend besaß. Dort heuerte er schließlich bei einem New Yorker Startup an. Doch die Personalabteilung von Huawei warb ihn schließlich im Jahr 2018 ab – trotz geringerem Gehalts. „Einerseits wollte ich näher bei meiner Familie sein. Aber vor allem ist es eine Ehre, für Huawei zu arbeiten“, sagt Zhou Yuhao. Jahr für Jahr hat er aus der Ferne beobachten können, wie sich China in Windeseile grundlegend veränderte: Die Internetleitungen wurden schneller, das Hochgeschwindigkeitsnetz für Züge avancierte zum weltweit größten und vor allem stiegen jedes Jahr Millionen Menschen in die Mittelschicht auf. Zhou hat beschlossen, teilzuhaben am technologischen Aufstieg seines Heimatlandes.

Dieser fußt nicht zuletzt auf der Erfolgsgeschichte der chinesischen Universitäten, die in den letzten Dekaden den Anschluss zur Weltspitze erklommen haben. Laut der Rangliste des renommierten britischen Wochenmagazins „Times Higher Education“ haben es für das Jahr 2021 bereits sechs Bildungseinrichtungen aus der Volksrepublik in die Top 100 geschafft – doppelt so viele wie noch ein Jahr zuvor. Am besten schnitten die zwei führenden Unis aus der chinesischen Hauptstadt ab, Tsinghua Universität (20. Platz) und Peking Universität (23. Platz). Zum Vergleich: Die Universität Wien kommt im selben Ranking lediglich auf Nummer 150.

Natürlich spielt Bildung in der noch immer konfuzianisch geprägten Gesellschaft Chinas eine immense Rolle: Verschärft durch die jahrzehntelange Ein-Kind-Politik setzten viele Eltern ihre Ressourcen und Hoffnungen in ihre Kinder, auf möglichst gute Universitäten zu gehen. Doch mindestens ebenso stark zum Aufstieg der heimischen Universitäten trugen die staatlichen Bildungsausgaben bei, die seit acht Jahren mehr als vier Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts ausmachen. 2019 gab die Regierung deutlich mehr als 500 Milliarden für Schulen und Universitäten aus, das ist ein Anstieg von über acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

In China zu studieren ist zwar im Vergleich zum angelsächsischen Raum deutlich günstiger, doch für mitteleuropäische Verhältnisse mitnichten günstig: Die durchschnittlichen Studiengebühren schwanken im Reich der Mitte je nach Fach und Institut zwischen umgerechnet 1.500 Euro und 3.000 Euro. Doch vor allem ist der Kampf um die begehrten Plätze der Top-Unis ein Haifischbecken: Die letzten Jahren eines jeden Oberschülers sind mit Nachhilfestunden und Selbststudium bis in die frühe Nacht gefüllt. Sie sind ausschließlich auf den „Gaokao“, die finale Universitätseingangsprüfung gerichtet: Die Resultate jenes Test entscheiden darüber, an welche Uni man zugelassen wird – und damit auch über die Chancen am Arbeits- und auch Heiratsmarkt.

„Der Unterricht ging allein bis fünf Uhr Nachmittag. Zwei Stunden später haben wir weiter gepaukt, meist bis nach zehn Uhr abends“, erinnert sich die 29-jährige Sha Hui, die in Wuhan studiert hat: „Vor allem für Kinder aus ganz normalen Familien ist es wichtig, hart zu lernen, um später einmal aufzusteigen. Nur wer an einer guten Universität studiert, hat nachher Chancen auf eine Stelle bei einer großen Firma“. Wenn man nicht an einer der führenden Unis inskribiert sei, dann würde die eigene Bewerbung schon von vorneherein aussortiert.

Insbesondere die digitale Revolution bietet mittlerweile vielen chinesischen Absolventen aus vornehmlich technischen Studiengängen eine berufliche Zukunft. Auf Außenstehende mag dies zunächst paradox wirken: Ausgerechnet das kommunistische China, dessen Parteichef Xi Jinping in seinen von Ideologie geschwängerten Reden allzu gerne Marx und Engels zitiert, steht weltweit an der Speerspitze des digitalen Handels. Kein Land der Welt verfügt über einen größeren E-Commerce-Sektor, nirgendwo sonst steigt der mobile Zahlungsverkehr jährlich um bis zu 30 Prozent an.

Die Digitalisierung hat längst alle Lebensbereiche der urbanen Chinesen durchdrungen: Selbst im Nudelladen um die Ecke wird in Peking per QR-Code und Smartphone bezahlt, viele Lokale oder Kaffeehausketten nehmen bereits kein Bargeld mehr an. Auch Hotelbuchungen, Zug-Ticketkäufe oder Essenslieferungen lassen sich nur noch mit mobilen Zahldienstleistern tätigen. Online-Bezahlsysteme wie Wechat Pay sind unabdingbar, das Bargeld im Portemonnaie hingegen ist höchstens eine Reserve für den Fall, dass das Smartphone-Akku den Geist aufgibt.

Wer sich etwa seinen morgendlichen Kaffee per App bestellt, bekommt ihn meist in weniger als einer halben Stunde bereits zur Haustür geliefert – mithilfe der unzähligen Arbeitsmigranten, die Waren auf ihrem Elektro-Scooter durch die Stadt fahren. Auch beim Online-Shoppen ist China Trendsetter: Die Konsumenten im Reich der Mitte setzen federführend auf Livestreaming-Dienste, bei dem meist junge Influencer ihre Produkte vor ihrer Handy-Kamera in Echtzeit anpreisen. Es ist die am schnellsten wachsende Internetanwendung der Volksrepublik: Mehr als 400.000 Händler verkaufen ihre Produkte per Livestreaming, im ersten Halbjahr 2020 haben sie damit 50 Milliarden Zuschauer erreicht.

Jene wirtschaftliche Transformation ist allen voran in Peking zu beobachten. Keine andere Stadt beheimate mehr sogenannter „Unicorns“; also Startups ohne bisherige Börsennotierung, deren Wert über eine Milliarde US-Dollar übersteigt. Laut den neuesten Zahlen gibt es 93 Unicorns in der chinesischen Hauptstadt, in San Francisco sind es unter 60. Die meisten Startups speisen sich aus jungen Universitätsabsolventen, viele von ihnen in ihren Zwanzigern.

Auch die 33-jährige Li Chen hat sich bewusst dafür entschieden, nach ihrem Mathematikstudium bei einem Pekinger Startup anzuheuern: Dort arbeitet sie an einem Erkennungsprogramm für menschliche Bewegungsabläufe. Auf ihrem Laptop zeigt sie die neuesten Ergebnisse des Pilotprojekts, welches gerade an mehreren Oberschulen ausgetestet wird. Die auf künstliche Intelligenz basierte Software soll mithilfe von Überwachungskameras unter anderem erkennen, ob Schüler während eines Tests heimlich schummeln. Für europäische Ohren klingt dies geradezu nach einer Orwellschen Dystopie á la 1984, doch in China, so sagt Li, würde es nur wenig Diskussionen über Datenschutz und Privatsphäre geben.

„Viele junge Chinesen wollen nicht mehr bei den klassischen, großen Unternehmen arbeiten – vor allem wegen der langen Arbeitszeiten“, sagt sie. Auf sozialen Medien hat sich dafür längst ein Modewort gebildet: Mit „996“ beschreiben Chinesen die immense Arbeitslast bei den großen Tech-Konzernen wie „Alibaba“ oder „Tencent“. Büroschichten gehen von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, und das täglich sechs Mal die Woche. Zwar wird dies nicht selten mit einem satten Gehaltscheck von umgerechnet 3.000 Euro goutiert, doch für viele Millenials ist Geld längst nicht mehr alles.

Li Chen beispielsweise hat in ihrem sechsköpfigen Startup überhaupt keine festen Arbeitszeiten. Wichtig sei nur, sagt sie, dass sie ihre Aufgaben rechtzeitig erledige. Mit ihrem Chef, der nebenher noch als Professor an einer Pekinger Universität forscht, hat sie ausgehandelt, einen Tag pro Woche im Home-Office zu arbeiten. Dort wohnt Li, wie viele alleinstehende Chinesen, gemeinsam mit zwei Mitbewohnern. Der Nachteil an Startups sei nämlich die Bezahlung: Solange man sich noch in der Entwicklungsphase befinde, reicht der Lohn auf dem teuren Mietmarkt nur selten für eine eigene Wohnung.

Hinzu komme, dass man die eigenen Eltern überzeugen müsse, dass auch Startups eine stabile Zukunft bieten können. Im konservativen China wünschen sich die meisten Mütter und Väter, dass ihr Sprössling bei den krisensicheren Staatsunternehmen anheuern und Parteimitglied werden sollen. Die Definition von gesellschaftlichem Erfolg ist also recht eng definiert – und doch ganz anders als im Westen: Ärzte und Rechtsanwälte gelten in China vom Status her als wenig angesehene Berufe, weil schlecht bezahlt.

Doch Chinas Aufstieg zur Bildungsmacht hat auch ihre Schattenseiten. In Peking zeigt sich dieser Tage, wie verschlossen die Universitäten des Landes mittlerweile sind: Wer sich dem Haupteingang der exklusiven Tsinghua Universität allein nur nähert, wird von einem schwarzuniformierten Mann mit roter Armbinde nach einem Ausweis gefragt. Wer nicht inskribiert ist oder zum Lehrpersonal gehört, darf den idyllischen Campus voll Trauerweiden, Bächen und traditionell angelegten Parks nicht betreten. Jene physische Abschottung wurde erst kürzlich mit Ausbruch des Coronavirus eingeführt, doch trotz Eindämmung der Pandemie in China seit mehreren Monaten immer noch aufrecht erhalten. Sie steht sinnbildlich für die Entwicklung des Landes.

Denn auch intellektuell grenzt die chinesische Regierung unter ihrem Chefideologen Xi Jinping die Freiheit an Universitäten zunehmend ein. Im Dezember letzten Jahres etwa wurde bekannt, dass die renommierte Fudan Universität in Shanghai auf Druck der Kommunistischen Partei ihre Verpflichtung zur „akademischen Freiheit“ von den Satzungen streichen musste. In den folgenden Tagen versammelten sich die Studierenden in der Uni-Mensa zwar zu vereinzelten Protesten. Letztendlich verliefen die jedoch im Sande.

Dutzende Professoren wurden in den letzten Jahren landesweit mit Maulkörben versehen oder gar von ihrer Lehrtätigkeit enthoben, nur weil sie in ihren Unterrichtsfächern politisch sensible Themen aufgegriffen haben. Bis heute ist es beispielsweise unmöglich, die traumatische Periode der Kulturrevolution (1966-76) historisch aufzuarbeiten, oder über die ursprüngliche Vertuschung der Corona-Pandemie durch die Behörden während der ersten Wochen des Virusausbruchs zu debattieren. Die streng ideologische Maßriegelung würde, so hat es die „L.A. Times“ zuletzt berichtet, an die Ära Mao Tsetungs erinnern. Dabei galten die Universitäten des Landes noch vor kurzem als ein geschützter Ort für freie Diskussionen und den Austausch unterschiedlicher Ideen. Mittlerweile jedoch ist auch die akademische Lehre zutiefst von der Ideologie der Partei durchdrungen.

Und auch im Ausland sorgt der Einfluss der chinesischen Regierung an Universitäten verstärkt für Kontroversen. Im Mai machte der Fall des 20-jährigen Philosophiestudenten Drew Pavlou an der australischen University of Queensland weltweit Schlagzeilen: Pavlou hatte auf sozialen Medien in mehreren Kampagnen die chinesische Regierung teils heftig kritisiert – und wurde prompt von der Universitätsleitung suspendiert, weil er angeblich gegen interne Richtlinien verstoßen habe. Kritiker hingegen vermuten vielmehr, dass die Universität, welche finanziell immer mehr von den Studiengebühren chinesischer Studenten abhängt, dem Druck der Kommunistischen Partei Chinas nachgegeben habe.