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Ausgabe 1/2019
Kommentar Ausgabe 1/2019

Lasst sie arbeiten!

Israel steht im Hightech-Sektor und bei Start-up-Gründungen an der Weltspitze. Ein Kommentar von Korrespondentin ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID über die Gründe für diese Innovationskraft.

Von Alexandra Föderl-Schmid
Visionen Ausgabe 1/2019

Gegen das Vergessen

Demenz ist eines der Phänomene und Probleme einer zunehmend alternden Gesellschaft unserer Zeit.
Bislang gelten die meisten Formen von Demenz als unheilbar. Doch neue Forschung weckt neue Hoffnungen.

Von Christian Heinrich
Illustration eines alten Mannes mit Demenz
Diese Formel von Sepp Hochreiter ist Grundlage im Bereich des Deep Learning
Wissen Ausgabe 1/2019

Europäische KI?

Künstliche Intelligenz erlebt einen globalen Boom, bei dem Europa Gefahr läuft, den Anschluss zu verlieren. Am Institut für Machine Learning der JKU will man das verhindern.

Von Klaus Taschwer
Wissen Ausgabe 1/2019

Vom Klimakiller zum Rohstoff

Erhöhte Kohlendioxid-Konzentrationen in der Luft treiben den Klimawandel an. Aber kann man das Gas nicht aus der Luft holen und als Rohstoff verwenden? An der JKU gibt es dazu verschiedene Vorstöße.

Von Andreas Lorenz-Meyer
Das Kühlsystem des IBM-Quantencomputers
Wissen Ausgabe 1/2019

Siebenmeilenstiefel für Computer

Wunder ist ein großes Wort, und ein sehr ungewöhnliches, wenn die Rede von Computern ist.

Wenn aber eine neue Technikära dämmert, in der Rechner sicher geglaubte Verschlüsselungen knacken und schier unendlich komplexe Aufgaben im Handumdrehen lösen, liegen mystische Begriffe nahe. Auch wenn es die in Tausenden Experimenten bestätigte Quantenmechanik ist, die das Mirakel produziert.

Die neue Ära des „Wunderrechners“, wie die Medien den Quantencomputer gerne nennen, ist nah.

Zumindest macht das das Stakkato glauben, in dem Protagonisten der Branche neue Fortschritte melden. Google etwa will bald zum ersten Mal eine Anwendung demonstrieren, bei der ein Quantencomputer schneller ist als der größte Supercomputer des Planeten. „Sehr wahrscheinlich“ noch dieses Jahr könne die sogenannte Quantenüberlegenheit („quantum supremacy“) erreicht werden, glaubt John Martinis von der University of California in Santa Barbara, der für Google einen Quantenrechner entwickelt.

Der IT-Riese IBM wiederum hat jüngst seinen ersten kommerziellen Quantencomputer vorgestellt, der die Quantenüberlegenheit aber noch nicht erreicht. Auch China will die Schwelle zum neuen Zeitalter möglichst bald überwinden. Es investiert gigantische zehn Milliarden US-Dollar in ein Forschungszentrum zum Thema. Der chinesische Online-Händler Alibaba bietet Zugriff auf seinen Quantenrechner über die Cloud. Die Europäische Union läutet zur Aufholjagd: Eine Milliarde Euro investiert sie in ein „Flaggschiff-Projekt“ für Quantentechnologie, das Forschung und Industrie zusammenbringen soll.

Eines der Ziele: zwei leistungsstarke Quantenrechner binnen drei Jahren zu bauen.

Auch die Abwehrfront gegen den Wundercomputer formiert sich, da dieser im Internet viel genutzte Verschlüsselungen oder digitale Signaturen bedroht. Kryptologen entwickeln daher neue Verschlüsselungsmethoden, die vor Angriffen aus dem Reich der Quanten schützen sollen. Sie empfehlen, diese schon jetzt beim Design neuer Software vorzusehen, um sie schnell gegen die alten Methoden eintauschen zu können. Auch die „Quantenkommunikation“ sichert gegen einen Lauschangriff per Quantencomputer, da sie einzelne Lichtteilchen nutzt, die ein Lauscher zwangsläufig verändert. Armando Rastelli von der Universität Linz entwickelt dazu Quellen für einzelne Photonen.

Indessen: Nicht alle befeuern den Hype um die neue Computertechnik.

Die europäische Industrie etwa zögert mit Investitionen. Zum Bau der Quantencomputer des „Quanten-Flaggschiffs“ der EU trägt sie einige Geräte bei, aber kein Geld. Mancher Physiker, der am „Wunderrechner“ bastelt, ärgert sich über allzu vollmundige Ankündigungen von US-amerikanischen Unternehmen. Sie fürchten, dass die Prophezeiung wundersamer Rechenpower zu Enttäuschungen und in der Folge gekürzten Forschungsbudgets führen könnte.

Und das, obwohl sie selbst um die unbegreiflichen Phänomene in der Welt der kleinsten Teilchen wissen. Übertragen auf den Alltag würde diese jedermann „unmöglich“ nennen. Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger hat dafür ein Gedankenexperiment ersonnen. „Schrödingers Katze“ ist in einer Kiste gefangen, die einen tödlichen Mechanismus enthält: Ein radioaktives Atom löst die Freisetzung von Gift aus, sobald es zerfällt. Laut Quantenmechanik ist das Atom in einem Schwebezustand, solange die Kiste für einen Beobachter verschlossen bleibt. Es ist gleichzeitig zerfallen und intakt. Somit wäre die Katze simultan lebendig und tot. „Absurd“, sagt der „gesunde Menschenverstand“. Das Haustier könne nicht leben und nicht leben. Genau wie eine Tasse entweder hier oder dort steht und nicht an zwei Orten simultan.

Und doch bestätigen Experimente mit Quantenobjekten wie Molekülen, Atomen oder Elektronen immer wieder diese „Superposition“ von Möglichkeiten, die sich eigentlich ausschließen. Die Superposition ist vielgestaltig: ein Elektron, das links und rechts herum rotiert, ein Lichtteilchen, dessen Polarisation in zwei Richtungen weist, oder elektrischer Strom, der durch eine supraleitende Schleife im und gegen den Uhrzeigersinn fließt.

Die Parallelexistenz lässt sich in die Sprache der Computer übersetzen. Die kleinste klassische Informationseinheit, das Bit, speichert entweder 0 oder 1. Dank der Superposition verkörpern Atome oder andere Teilchen ein Quantenbit, kurz Qubit. Dieses speichert 0 und 1 simultan. Interessant wird es durch das Hinzufügen weiterer Qubits: Jedes einzelne verdoppelt die Anzahl der simultan speicherbaren Werte. Daher halten schon 300 Qubits mehr Zahlen vor, als es Teilchen im bekannten Universum gibt. Ein weiteres „Wunder“ der Quantenphysik macht aus dem astronomischen Speicher einen superschnellen Rechner: die sogenannte „Verschränkung“. Zwei Teilchen, die einmal miteinander in Wechselwirkung standen, beispielsweise kollidiert sind, bilden fortan eine Einheit, ähnlich wie ein Paar Schuhe. Ihre Verbindung bleibt, auch wenn sie sich beliebig weit voneinander entfernen. Verändert man den Zustand des einen Partners, ändert sich der des anderen im selben Moment. Im Bild mit den Schuhen: Geht der eine von einer Superposition aus linkem und rechtem Schuh in den eindeutigen Zustand „linker Schuh“ über, wechselt der andere Partner, und sei er Lichtjahre entfernt, zeitgleich in „rechter Schuh“. Einstein nannte das ungläubig „spukhafte Fernwirkung“.

Doch der Spuk ist experimentell bewiesen: Chinesische Physiker demonstrierten die Verschränkung von Photonen über 1203 Kilometer hinweg. Magie ist indessen nicht im Spiel: Das Phänomen folgt klaren mathematischen Regeln und lässt sich exakt reproduzieren. Die Welt der Quanten ist materiell, sie tickt nur anders.

Durch die Verschränkung lassen sich einzelne Qubits miteinander verschalten. Die Schaltungen führen dann gemeinsam logische Operationen aus, ähnlich wie elektronische Schaltkreise heutiger Computer. Mit dem Unterschied, dass ein Quantenschaltkreis alle Aktionen, die dieser Schaltung möglich sind, simultan ausführt. Bildlich gesprochen wie ein Taschenrechner, der die Zahlen 3 und 7 mit einem Knopfdruck addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert. Gewissermaßen geht ein Quantenrechner alle Lösungswege parallel.

Dadurch ist es ihm theoretisch möglich, hochkomplexe Aufgaben zu knacken, indem er alle denkbaren Varianten durchprobiert. Er ermittelt etwa, aus welchen Primzahlen sich eine Zahl mit Hunderten von Dezimalstellen zusammensetzt. Dafür gibt es keine Formel, im Wesentlichen muss man alle Kandidaten durchprobieren. Und das sind mehr, als es Teilchen im Universum gibt. Ein klassischer Rechner bräuchte dafür Äonen. Wegen ihrer praktischen Unknackbarkeit beruhen Verschlüsselungen und digitale Signaturen im Internet auf dieser „Faktorisierung“. Doch ein leistungsstarker Quantencomputer könnte sie binnen Minuten ausführen – und Codes knacken.

Laborprototypen von Quantenrechnern haben bislang jedoch nur sehr kleine Zahlen faktorisiert. Denn sie besitzen nur wenige Qubits. Der größte Quantenrechner, bei dem einzelne Qubits wahlweise miteinander verschränkt werden können, hat 20 Qubits aus Kalzium-Ionen, gebaut vom Team um Rainer Blatt von der Universität Innsbruck. Zwar hat John Martinis von Google einen Quantenrechner mit 72 Qubits und IBM einen mit 50 gebaut, jeweils bestehend aus supraleitenden Leiterschleifen. Doch lassen sich deren Qubits nicht so präzise kontrollieren wie die der Innsbrucker Maschine. Würden sie es, dann wäre die Quantenüberlegenheit bereits erreicht. Denn kein Supercomputer ist in der Lage, Moleküle mit mehr als 50 Atomen exakt zu simulieren, eine Anwendung, die die Wirkstoffsuche in der Pharmaindustrie beschleunigen würde. Der Quantenrechner könnte es – ohne Etagen voller Computerschränke. Das soll in den nächsten Jahren möglich sein. Doch es wäre erst ein bescheidener Anfang. Um klassische Rechner auch auf Gebieten wie der Mustererkennung, dem maschinellen Lernen oder der Optimierung von Verkehrsströmen zu schlagen, bräuchte es Quantenrechner mit Tausenden oder Hunderttausenden von Qubits.

Doch diese sind alles andere als leicht zu bauen. Das Problem ist, dass eine Katze entweder lebt oder tot ist, nie beides. Im Alltag sehen wir keine Superposition. Denn der Schwebezustand ist empfindlicher als jedes Soufflee. Sobald ein Quantenobjekt mit seiner Umwelt interagiert, wechselt es in die Eindeutigkeit. Schon ein Stoß mit einem Luftmolekül löst diesen Übergang aus, im Fachjargon „Dekohärenz“ genannt. Je größer ein System, desto wahrscheinlicher werden solche Wechselwirkungen.

Was Physiker mit dem Quantencomputer anstreben, ist daher etwas Unnatürliches: ein System aus Tausenden oder Millionen Qubits in Superposition zu halten. „Das ist etwa so, als würde man versuchen, den radioaktiven Zerfall eines Atoms zu stoppen“, drückt es Ferdinand Schmidt-Kaler von der Universität Mainz aus, der einen Quantenrechner aus Kalzium-Ionen bauen will. Deshalb schützen Physiker ihre Qubits, etwa mit Vakuen, indem sie sie mit elektromagnetischen Feldern in der Schwebe halten oder auf Temperaturen knapp über dem absoluten Nullpunkt abkühlen (siehe Bild). So gelingt es, den natürlichen Prozess der Dekohärenz zumindest hinauszuzögern.

„Unsere Qubits leben bis zu zwei Sekunden“, sagt Schmidt-Kaler. Da die „Kohärenzzeit“ die Zahl der möglichen Rechenschritte eingrenzt, versuchen die Forscher, sie weiter zu erhöhen. Dazu geben sie den Qubits eine Art Selbstheilungskraft. Sie fügen den rechnenden Qubits weitere hinzu, die prüfen, ob sich Dekohärenz einschleicht, und, wenn ja, dies melden, woraufhin ein Steuerungslaser den sich anbahnenden Fehler ausgleicht. Unklar ist bislang, wie viele solche Selbstheilungs-Qubits es braucht. „Ein Quantencomputer könnte inklusive Fehlerkorrektur Millionen von Qubits benötigen“, meint Schmidt-Kaler. Ein vielseitiger, wirklich mächtiger Quantenrechner wird daher noch mindestens ein Jahrzehnt auf sich warten lassen, meinen die meisten Physiker.

„Doch auch dieser wird den klassischen Rechner nicht überflüssig machen“, ist sich Robert Wille von der Universität Linz sicher. Zwar ließe sich die neue Maschine frei programmieren, vom Textverarbeitungsprogramm bis zum maschinellen Lernen. Doch der „Wunderrechner“ würde nicht per se alles schneller erledigen als ein normaler Computer. Zwar geht der Quantenrechner alle Lösungswege simultan. Er filtert aber den richtigen nicht automatisch heraus. „Dafür braucht man Quantentricks“, sagt Wille. Die Crux: Jede Anwendung verlangt ihren eigenen Kniff. Bislang gelang das nur mit wenigen Quantenalgorithmen. Zum Beispiel mit dem Algorithmus von Grover, benannt nach dem indisch- amerikanischen Informatiker Lov Grover.

Dieser findet in ein paar Schritten einen gesuchten Eintrag in einer ungeordneten Datensammlung. Die möglichen Lösungen kann man sich als eine Zahl vorstellen. Bei vier Einträgen in der Datenbank jeweils ein Viertel. Der Trick beim Grover-Algorithmus ist, dem gesuchten Eintrag zunächst ein negatives Vorzeichen zu verpassen, also minus ein Viertel. Und zweitens alle vier Zahlen an ihrem Mittelwert, also ein Achtel, zu spiegeln. Bei den drei positiven Werten kommt dabei null heraus. Bei dem negativen hingegen eins. Somit wurden alle falschen Lösungswege neutralisiert, nur der richtige bleibt übrig. Willes Team simuliert Algorithmen, die für künftige Quantencomputer geschrieben werden, auf klassischen Rechnern.

Mit den Methoden der Linzer Forscher ist es möglich, Quantenalgorithmen schon heute zu testen, was bei der Suche nach solchen Quantentricks hilft. Im März letzten Jahres hat Willes Team dafür den mit 50.000 Euro dotierten Google-Award gewonnen. Wie sehr der Quantencomputer die Welt verändert, wird davon abhängen, ob man trickreiche Algorithmen findet. „Das wird bei vielen Aufgabenstellungen gelingen, bei vielen aber auch nicht“, schätzt Wille. Forscher glauben, dass es bei wichtigen Problemen im Bereich Big Data glücken kann, bei denen klassische Computer schnell an Grenzen stoßen. Dazu gehören Mustererkennung oder Optimierung, also das schnelle Finden der bestmöglichen Lösung unter gegebenen Bedingungen. Algorithmen in der künstlichen Intelligenz könnten rascher lernen.

„Auch die Simulation des Klimas könnte schneller gehen“, meint Robert Wille. Als erste Anwendung erwarten Experten indessen die Simulation von chemischen Verbindungen oder Festkörpern auf atomarer Ebene. Das würde viele Prozesse in der Chemie- oder Pharmaindustrie sowie in der Materialentwicklung beschleunigen. Als Heiliger Gral gilt Physikern ein Supraleiter, der Strom nicht nur bei sehr tiefen Minusgraden verlustfrei leitet, sondern auch bei Raumtemperatur. Denn die Supraleitung ist ein Quantenphänomen, das sich mit einem Quantenrechner leichter verstehen ließe, so die Hoffnung. Es gibt aber auch Beispiele, wo der Quantencomputer definitiv nicht schneller sein wird, was zeigt, dass er nicht jeder Form von Komplexität Herr werden, sprich: keine Wunder vollbringen wird.

Viele Experten glauben, dass es auf eine Art Hybrid-Computer hinauslaufen wird. Künftige Rechner enthalten demnach eine „Quantum Processing Unit“, kurz: QPU, ähnlich wie heutige Computer Spezialchips haben, zum Beispiel eine Grafikkarte, um Spiele mit komplexer, rechenintensiver Computergrafik auf den Bildschirm zu bringen. Die QPU würde mit klassischen Chips zusammenarbeiten. Sie würde jene Aufgabenteile übernehmen, mit denen sich der herkömmliche Chip schwertut. Im Tabletcomputer sehen die meisten Experten die QPU indessen nicht. „Eher als Cloudservice“, meint Wille. Das könnte den Clouddiensten ähneln, mit denen IBM oder Alibaba heute schon ihre prototypischen Quantenrechner der internationalen Forschergemeinde zur Verfügung stellen.

Bevor solche Visionen wahr werden, muss indessen etwas Entscheidendes passieren. Bislang forschen Physiker oft recht isoliert in ihren Laboren. Um den „Wunderrechner“ in die Anwendung zu bringen, müssen sie nicht nur ihre Kräfte bündeln, sondern auch Ingenieure, Informatiker und andere Spezialisten einbinden. Das Vorhaben wird oft mit dem Kernforschungszentrum CERN bei Genf verglichen, wo Hunderte von Institutionen an einem Teilchendetektor basteln. Das Flaggschiff-Projekt der EU will das Schlagen solcher Brücken nun fördern. Der Weg zum „Wunderrechner“ ist also noch weit. Am Ende könnte etwas stehen, das diese Bezeichnung halbwegs verdient. Es wäre allerdings kein reiner Quantencomputer.  

Von Christian J. Meier
Visionen Ausgabe 1/2019

Fair Trade für Plastik-Recycling

Wie die JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ eine grandiose Geschäftsidee in Afrika zur Marktreife bringt.

Von Dieter Hönig
Müllsammler aus Kenia stehen vor Plastikmüll
Eine Drohne fliegt über ein Gebäude
Wissen Ausgabe 1/2019

Vorzeitige Verhaftung

„Minority Report“ in Österreich? Der Scifi-Blockbuster von Steven Spielberg (2002) spielt im Jahr 2054, die Polizei kann dank Technologie in die Zukunft sehen und verhaftet potenzielle „Mörder“ vor der Tat.

Von Ulrike Heitmüller
Wissen Ausgabe 1/2019

Die Flucht nach vorn

Weil Google, Facebook & Co. wachsende Milliardengewinne schreiben, in Europa aber kaum Steuern zahlen, werden die Rufe nach einer „Digitalsteuer“ immer lauter. Diese Sehnsucht könnte allerdings unser komplettes Steuersystem nachhaltig umwälzen. Eine Spurensuche.

Von MARKUS ZOTTLER
Ein Geldkoffer als Symbol für Steuerflucht
Eine Geige verziert mit mathematischen Formeln
Kunststücke Ausgabe 1/2019

Musizieren, lieben und Maul halten

Musik mit naturwissenschaftlichen Verfahren zu betrachten, sei ungefähr so, wie eine Beethoven- Symphonie als Luftdruckkurve darzustellen.

Dieses Zitat wird jenem Physiker in die Schuhe geschoben, der selbst ein Popstar war und von dem man weiß, dass er Ludwig van Beethovens Musik als „emotional zu durchwühlt“ sowie „zu dramatisch und zu persönlich“ empfand. Musik und physikalische Gesetze? Nicht mit Albert Einstein. Für Bach und Mozart schwärmte der Mann, bei dem man romantische Verklärung für Notationen gar nicht erwägen mag, obwohl er seine Geige zärtlich „Lina“ nannte und zu Schuberts Kompositionen bemerkte: „Musizieren, lieben – und Maul halten!“ Dass ihn sogar die Eitelkeit beim Spiel vor Publikum beflog, spürte dereinst der Komödiendichter Ferenc Molnár, als dieser über Einsteins musikalischen Auftritt in kleiner Runde gekichert haben soll. „Warum lachen Sie, Molnár? Ich lache auch nicht in Ihren Lustspielen“, meckerte der Weltweise.

Aber Einstein blieb dran und kramte bei Wohltätigkeitsveranstaltungen so häufig wie ungefragt die „Lina“ aus der Tasche, bis ein Dahergelaufener reklamierte, es werde bald Fritz Kreisler an Einsteins Stelle die physikalischen Vorlesungen übernehmen müssen. Dieser Kreisler war es, der dem Formelvater von E = mc² an einem anderen Abend unterstellte, er könne nicht zählen, als Einstein wieder einmal den Einsatz verpatzt hatte.

So sehr es Einstein auch abstritt, Musik und Mathematik sind Geschwister. Das braucht man einem Mann wie dem talentierten Pianisten, Wittgenstein- Preisträger und JKU-Professor Gerhard Widmer nicht zu erzählen.

Wie einer seiner ehemaligen Informatikstudenten berichtet, weist Widmer diese Verwandtschaft anhand von absichtlich falschen Akkorden auch gerne selbst am Klavier nach. Hatte also Gottfried Wilhelm Leibniz recht, wenn er sagte, Musik sei die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich nicht dessen bewusst ist, dass sie rechnet? Stimmt das wirklich, wobei doch Musik und Mathematik aus völlig unterschiedlichen Richtungen kommen? Und die Gefahr, dass sie einander begegnen, so groß ist, wie das Risiko, dass sich das Pianisten-Wunderkind Kit Armstrong an einer falschen Taste vergreift.

Musik ist Kunst, die Emotionen auf metaphysische Weise auszudrücken vermag, aber in den Wolken belässt.

Mathematik will Phänomene der Natur nachweisen und in strenge Zahlen gießen, deren Interpretationspotenzial gegen null geht.

Bei Kit Armstrong sei nachgereicht, dass der 28-Jährige außerdem Mathematiker ist, sein naturwissenschaftliches Studium hatte er mit 15 abgeschlossen, parallel dazu ging er bei Alfred Brendel in die Pianisten- Lehre. Komponist Pierre Boulez war ebenfalls Mathematiker, genauso wie Dirigent Lorin Maazel und der revoltierende DDR-Liedermacher Wolf Biermann einer ist. Der Tenor Jonas Kaufmann gilt gerade noch, obwohl er das Mathematik-Studium abgebrochen hat, und Queen-Gitarrist Brian May lassen wir als Doktor der Astrophysik auch noch als einen jener Musiker durchgehen, die rechnerisch auf die Pauke hauen.

Wie kommt es zu dieser Wechselwirkung, zu diesem gegenseitigen Befeuern der einander vermeintlich abstoßenden Pole von Mathematik und Musik?

„Beim Kunstwerk soll das Chaos durch den Flor der Ordnung schimmern“, hat Novalis notiert. Der Flor der Ordnung ist die Kontrollinstanz, ob Musik als Kunstwerk gelten darf, selbst wenn alles mit Gefühl beginnt und mit Gefühl endet. Derlei geformte, mathematischen Prinzipien folgende Musik wird noch in 200 Jahren zu hören sein. Alles andere ist Geräusch und verschwindet.

Zu den vielen Idealen, die sich durch Musik vermitteln, gehört auch das der glücklichen Kommunikation. Man könnte wünschen, dass sich Redende so präzise verstehen, so genau aufeinander reagieren, wie es Musikinstrumente eines Ensembles tun. Der kleine Funke führt zur Explosion, wenn sich Musiker wie Liebende verhalten, indem sie sich aufgeben und Individualität auf der höchsten Stufe im Gemeinsamen praktizieren.

Nimmt man Musik ernst, also auch persönlich, dann kann sie sich zum Soundtrack eines Lebens verdichten, der auch als Formeln einer Identität nachzurechnen ist. Auf Strukturen und Grundrechnungsarten basierend, schafft es aber bloß die Musik, ein größeres Publikum zu verführen, Ergebnisse hörbar, erlebbar zu machen.

Der Mathematiker mag seine Lösungen komplexester Fragestellungen noch so dramaturgisch ausgefeilt vortragen, im Linzer Musiktheater wird man ihm dafür nicht den Großen Saal aufsperren müssen, um die Zuhörerschaft in Sitzreihen zu schlichten.

Also kehren wir wieder bei Einstein ein, der kein einsamer Rechner war. In seinem 1937 veröffentlichten Text „Moralischer Verfall“ beschwört er Künste und Wissenschaften als Zweige desselben Baumes. All diese Bestrebungen zielen darauf hin, „das menschliche Leben zu veredeln, es emporzuheben aus der Sphäre der rein leiblichen Existenz und den Einzelnen in die Freiheit zu führen“.

Und weil die Kunst genauso weit von der Erkenntnis entfernt ist wie die Naturwissenschaft, bringt das Geigenspiel den Physiker in seiner Arbeit keinen einzigen Schritt weiter. Gerhard Widmer ist kein famoser Informatiker, weil er die Klänge des Klaviers zu dressieren versteht. Wie viele naturwissenschaftlich Hochbegabte vertont er ob der systemischen Verwandtschaft die Varietäten seiner Anlage. Nur klingt sein Talent einerseits wunderschön – und andererseits? Gar nicht. Doch der Baum ist derselbe.  

Von Peter Grubmüller
Platz für Statistik Ausgabe 1/2019

PLATZ FÜR STATISTIK

Nehmen wir mal an, Sie wollen Ihr Finanzamt bei Ihrer Steuererklärung betrügen. Nicht, dass wir das von Ihnen vermuten würden, aber wenn doch, dann sollten Sie beim Ausfüllen der Formulare mit irgendwelchen Fantasiezahlen vorsichtig sein. Verwenden Sie dabei nämlich, was viele als naheliegend und vernünftig annehmen, alle Ziffern gleichmäßig, so lassen sich Ihre numerischen Angaben relativ einfach als Fälschungen identifizieren. Das kommt von einem erstaunlichen Umstand, welcher in der Statistik nach seinen Entdeckern (Newcomb)- Benford-Gesetz genannt wird und zur Folge hat, dass etwa Zahlen mit führenden Einsen in vielen Zusammenhängen öfter vorkommen als solche mit führenden Zweien, mit führenden Zweien wiederum öfter als mit führenden Dreien und so fort. Genauer gesagt tritt nach diesem Gesetz eine Zahl mit Ziffer z an erster Stelle mit einer zu erwartenden Häufigkeit log10(1+1/z) auf. Die Eins tritt demnach in etwa 30 % aller Fälle auf, die Zwei in ca. 18 % und so weiter. (vgl. etwa: https://de.wikipedia.org/wiki/Benfordsches_Gesetz)

Für das Auftreten dieser speziellen Verteilung lassen sich vielerlei Erklärungen finden. Am eingängigsten ist vielleicht jene über einen gleichmäßigen Wachstumsprozess. Pflanzen Sie etwa einen ein Meter hohen Baum, welcher monatlich im Schnitt mit einem konstanten Faktor, sagen wir 1 %, wächst, dann dauert es 70 Monate, bis dieser Baum zwei Meter hoch ist, weitere 41 Monate, bis er drei Meter misst und so weiter. Bei einer Höhe von neun Metern dauert es nur noch elf Monate bis zur Höhe von zehn Metern und dann steht wieder eine Eins am Anfang und der Prozess setzt sich fort. Natürlich wachsen Bäume, in der Realität nicht gleichmäßig und schon gar nicht unbeschränkt, aber betrachtet man eine größere Anzahl unterschiedlich alter Bäume spielt dies keine Rolle. Andere Beispiele für Benford-verteilte Zahlen sind Hausnummern oder Bevölkerungsgrößen. Das Phänomen ist allerdings nicht auf spezifische Datensätze beschränkt.

Machen Sie selbst einen Versuch: Nehmen Sie eine größere Kollektion von Daten aus Ihrem Umfeld, z. B. Ihren Forschungen, die nicht zu klein ist und bei welcher der Datenbereich nicht auf eine bestimmte Zahl von Stellen beschränkt ist, ordnen Sie die Werte nach der führenden Ziffer und zählen Sie: Sie werden staunen (oder jetzt vielleicht nicht mehr).

Das Benford-Gesetz lässt sich übrigens auf weitere Stellen der untersuchten Zahlen erweitern, allerdings mit abnehmender Ungleichmäßigkeit. Die letzten Ziffern sollten, wie man sich leicht überlegen kann, mit jeweils gleicher, also je 10 % Häufigkeit auftreten.

Das Fälschen einer Steuererklärung erfordert also wesentlich mehr statistisches Know-how, als man vermuten möchte. Von 100 einzutragenden Zahlen sollten rund 30 mit einer Eins, rund 18 mit einer Zwei, und so fort beginnen. Aber auch die zweiten Stellen sollten sich nach den entsprechenden Regeln für die zweiten Ziffern richten. Und die dritten gegebenenfalls nach jenen für die dritten … In der Praxis werden Verletzungen der Benford’schen Verteilung übrigens nicht nur zum Aufdecken von Wirtschaftskriminalität, sondern auch etwa von Genanomalitäten oder Wahlbetrug verwendet.

JKU: PLATZ FÜR FAKTEN STATT FAKE NEWS

Von Werner Müller und Andreas Quatember
Stabdiagramm der Benford-Verteilung zum Klimawandel
Meinhard Lukas und Norbert Trawöger im Gespräch
Kepler Salon Ausgabe 1/2019

In der Erfindung gefunden

Seit Jahresbeginn ist die JKU Trägerin des Kepler Salon. Die Linzer Kultur der
Wissensvermittlung betritt mit dieser Partnerschaft eine Dimension, die in Europa einzigartig ist.

Von Meinhard Lukas und Norbert Trawöger
Kepler Salon Ausgabe 1/2019

Österreich und Europa

Das Jahr 2019 kann das „Jahr Europas“ werden.

Von Ulrich Fuchs
Der Innenraum im Kepler Salon.