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Kepler Tribune
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Ausgabe 3/2020
Visionen Ausgabe 3/2020

Der Huchen, die Rodl und ein Tumor­zel­len­schredder

Es begann mit dem Schutz von Fischen an der Gro­ßen Rodl – und am Ende stand ein an der JKU ent­wi­ckel­ter Pro­to­typ einer
Maschine, die die Meta­stasie­rung von Krebs im mensch­li­chen Kör­per ein­däm­men könnte. Wie das eine zum ande­ren kam? Eine Chro­no­lo­gie.

Von Markus Staudinger
Wissen Ausgabe 3/2020

In konspi­ra­tiver Gesell­schaft

Nichts geschieht durch Zufall. Nichts ist, wie es scheint. Und: Alles ist mit­ein­an­der ver­bun­den. Das sind die wich­tigs­ten Ingre­di­en­zien für eine Ver­schwö­rungs­theo­rie. In Zei­ten von Corona funk­tio­nie­ren sie beson­ders gut. Auch wenn sie noch so falsch sind. Warum ist das so?

Von Stefan Kappacher
Kommentar Ausgabe 3/2020

Die Reife­prü­fung

Das ver­gan­gene Schul­jahr endete mit kol­lek­ti­ver Über­for­de­rung. Wie ste­hen die Chan­cen, dass es bes­ser wird? Karin Leit­ner über bil­dungs­po­li­ti­schen Kata­stro­phen­schutz.

Von Karin Leitner
Hintergrund Ausgabe 3/2020

Die neue, alte Norma­lität

Die Pro­gno­sen von der schö­nen, neuen Post-​Corona-Welt erwie­sen sich als heil­los über­trie­ben. Oder zumin­dest als ver­früht. Ein Sys­tem­wan­del ist nicht in Sicht.

Von Eva Linsinger
Hintergrund Ausgabe 3/2020

Koste es, was es wolle

... zahle es, wer mag. Poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen in Zei­ten der Corona-​Krise. In der Aus­ein­an­der­set­zung mit den Fol­gen wer­den uns Mas­ken nur bedingt hel­fen.

Von Christian Nusser
Campus Ausgabe 3/2020

Fragen aus Keplers Garten

In die Zukunft den­ken, Inno­va­tion erkun­den und zugleich mit For­men des Dis­kur­ses expe­ri­men­tie­ren: All das hat mit der DNA des Ars Elec­tro­nica Fes­ti­vals zu tun. In der Corona-​Krise mutiert das Lin­zer Medi­en­kunst­fes­ti­val nun selbst zu einem Pro­to­typ.

Von Uschi Sorz
Im Gespräch Ausgabe 3/2020

Die Gesell­schaft ist gefor­dert, bevor die Dystopie zur Realität wird

COVID-​19 hat gezeigt, wie uner­war­tet schnell die gesell­schaft­li­che Nor­ma­li­tät dys­to­pi­sche Züge anneh­men kann, sei es die Staats­kon­trolle in China, sei es die zur Schau gestellte Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit eines Trump oder Bol­so­naro, aber auch in Europa. Mehr als zehn Jahre Aus­teri­tät nach der Finanz­krise haben den Gesund­heits­sek­tor an Gren­zen gebracht, an denen die Triage über selek­ti­ves Über­le­ben ent­schei­den sollte. Der wirt­schaft­li­che Shut­down hat nicht nur Divi­den­den, son­dern Exis­ten­zen ein­bre­chen las­sen. Der soziale Shut­down hat gezeigt, dass dem Bezie­hungs­we­sen Mensch die digi­tale Welt allein nicht genügt und wie schnell demo­kra­ti­sche For­men poli­ti­scher Wil­lens­bil­dung gefähr­det sind, wenn Macht­ha­ber* innen die Ungunst der Stunde zu wei­te­rer Selbst­er­mäch­ti­gung nut­zen. Der kul­tu­relle Shut­down hat non­kon­for­mis­ti­sche Künst­ler*innen, die nicht von der „Kul­tur­in­dus­trie“ (Adorno/ Hork­hei­mer) leben, beson­ders getrof­fen. COVID-​19 hat eine Idee davon ver­mit­telt, auf wel­che Zivi­li­sa­ti­ons­kri­sen sich die Gesell­schaft zu bewegt, wie sozial, poli­tisch, kul­tu­rell arm sie sein wird, wenn sie nicht umdenkt. Ein im Wort­sinn radi­ka­les, an die Wur­zeln des Übels her­an­rei­chen­des Umden­ken ist erfor­der­lich.

Die Pan­de­mie und wei­tere sozial-​ökologische Gefähr­dun­gen wie der Kli­ma­wan­del hän­gen engs­tens mit dem wirt­schaft­li­chen Raub­bau an den Lebens­grund­la­gen der Mensch­heit zusam­men. Die­ser Raub­bau hat mit dem Indus­trie­ka­pi­ta­lis­mus begon­nen und gefähr­det im Finanz­markt­ka­pi­ta­lis­mus das Über­le­ben. Weder las­sen sich Kata­stro­phen wissenschaftlich-​technologisch beherr­schen, wie das moderne Fort­schritts­den­ken immer wie­der glau­ben machen will, noch sind die finanz­markt­ka­pi­ta­lis­ti­schen Wachs­tums­im­pe­ra­tive mit einer nach­hal­ti­gen Lebens­weise ver­ein­bar.

Zei­ten gro­ßer Wirt­schafts­kri­sen – und nicht nur die Län­der Euro­pas sind bereits mit­ten­drin – waren immer auch Zei­ten ver­schärf­ter sozia­ler Ungleich­hei­ten und tief­ge­hen­der gesell­schaft­li­cher Spal­tun­gen, die der Demo­kra­tie an die Sub­stanz gegan­gen sind. Sie for­dern zur Aus­ein­an­der­set­zung her­aus, wie gewirt­schaf­tet und gelebt wer­den kann und soll. In der Gegen­warts­ge­sell­schaft gibt es zahl­rei­che „reale Uto­pien“ (Wright) soli­da­ri­schen Zusam­men­le­bens, sozial-​ öko­lo­gisch nach­hal­ti­gen Wirt­schaf­tens und deli­be­ra­ti­ver poli­ti­scher Wil­lens­bil­dung. Sie tan­gie­ren die „klei­nen Fra­gen“ des All­tags – vom öffent­li­chen Nah­ver­kehr bis zum Mehr­ge­nera­tio­nen­haus – ebenso wie die „gro­ßen Fra­gen“ von indus­tri­el­lem Umbau, Wirt­schafts­de­mo­kra­tie und Sozi­al­staats­ent­wick­lung. Es geht mir nicht darum, wel­che Wege hier beschrit­ten wer­den kön­nen und sol­len, aber die Gesell­schaft ist gefor­dert, sich damit zu befas­sen, bevor die Dys­to­pie mehr und mehr zur Rea­li­tät wird. Mar­ga­ret That­chers berühm­ter Satz in Sachen Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus passt, wenn die Mensch­heit über­le­ben will, bes­ser für sein Gegen­teil, die Uto­pie einer soli­da­ri­schen Gesell­schaft: There is no alter­na­tive.

Von Brigitte Aulenbacher
Im Gespräch Ausgabe 3/2020

Wie es weiter­gehen kann

„Den­ken heißt über­schrei­ten!“, schreibt der Phi­lo­soph Ernst Bloch in sei­nem Haupt­werk „Das Prin­zip Hoff­nung“. Er meinte damit nicht nur das Über­schrei­ten der von ande­ren gesetz­ten Gren­zen, son­dern auch das Über­schrei­ten von selbst gesetz­ten Gren­zen, die uns daran hin­dern, Mög­lich­kei­ten als rea­li­sier­bare Ideen zu sehen, als Uto­pien, und nicht als uner­reich­bare Traum­bil­der. Bloch stellte den Begriff der Uto­pie in einen Zusam­men­hang mit dem Begriff der Hoff­nung, den er als Bereit­schaft zur Erobe­rung des Neuen sah. „Es kommt dar­auf an, das Hoff en zu ler­nen“, ermun­tert uns Bloch. Hof­fen kann man nur über das Bestehende hin­aus; den Sta­tus quo braucht man nicht zu erhof­fen.

Eine Gesell­schaft, die nicht in Nost­al­gie ertrin­ken oder im Prag­ma­tis­mus ersti­cken will, braucht die Kraft von Uto­pien. Kraft erlan­gen Uto­pien aller­dings nur, wenn man ihnen den defä­tis­ti­schen Makel nimmt, das unrea­li­sier­bare Pro­dukt welt­ab­ge­wand­ter Traum­tän­ze­rei zu sein.

Die Abschaf­fung von Skla­ve­rei und Leib­ei­gen­schaft, glei­che Rechte für Frauen und Män­ner, der demo­kra­ti­sche Rechts­staat, die Gel­tung der Men­schen­rechte, die Reise zum Mond, die Grün­dung der UNO und der EU ... all diese Ideen waren zu bestimm­ten Zeit­punk­ten Uto­pien – kon­krete Uto­pien, weil Men­schen an ihre Rea­li­sier­bar­keit glaub­ten und dafür gekämpft haben, dass diese Uto­pien gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Aner­ken­nung erhal­ten und als ebenso rea­li­sie­rungs­wür­dig wie rea­li­sie­rungs­fä­hig ange­se­hen wer­den.

Eine uto­pi­sche Ant­wort auf die noch kaum erkenn­ba­ren Her­aus­for­de­run­gen der begin­nen­den ers­ten indus­tri­el­len Revo­lu­tion war die Ein­füh­rung der all­ge­mei­nen Schul­pflicht. Der Unter­richt an den Schu­len des Dampf­ma­schi­nen­zeit­al­ters kon­zen­trierte sich übri­gens nicht auf das Ver­ständ­nis und die Bedie­nung von Dampf­ma­schi­nen.

Heute ver­än­dern die Kli­ma­krise und eine natur­wis­sen­schaft­li­che/ tech­ni­sche Revo­lu­tion wie­der ein­mal das Leben der Mensch­heit. Nur viel schnel­ler und tief­grei­fen­der als je zuvor.

Wie kön­nen wir Arbeit, Bil­dung, Wirt­schaft, Poli­tik und die Rolle des Men­schen im Zeit­al­ter von Digi­ta­li­sie­rung, Gen­tech­nik und Quan­ten­tech­no­lo­gie neu defi­nie­ren, bevor sich das Zeit­fens­ter für sozial ver­träg­li­che Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten schließt?

Der Radi­ka­li­tät unse­rer Zeit kann man nur mit der Radi­ka­li­tät von Uto­pien gerecht wer­den. Die Kunst kann das. Und die Wis­sen­schaft kann das. Gemein­sam könn­ten sie im Bloch’schen Sinne zu Hoff­nungs­trä­gern für die Erobe­rung des Neuen wer­den. Denn die ziel­ge­rich­tete Ver­bin­dung von wis­sen­schaft­li­chem, tech­no­lo­gi­schem und künst­le­ri­schem Den­ken ist ein wich­ti­ger Ansatz, wenn nicht eine Vor­aus­set­zung, um konkret-​utopische Stra­te­gien für die kom­ple­xen Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Zeit zu ent­wi­ckeln.

Von Gerald Bast
Visionen Ausgabe 3/2020

Somnium - Der Traum von Wissen­schaft

Jetzt ist schon wie­der was pas­siert. Das hat er sich oft gedacht, der Bren­eis Simon. Also eigent­lich hat er sich das fast immer gedacht. Zumin­dest immer dann, wenn es eine Mathematik-​Prüfung gab. Das kann er näm­lich. Das mit den Zah­len und dem Den­ken. „Wenn was mathe­ma­tisch bewie­sen wurde, dann hat man die abso­lute Sicher­heit, dass es auch wahr ist.“ Das hat er ein­mal gesagt, der Bren­eis. Da hat man schon gewusst: Wenn einer so was sagt, dann wird das was wer­den mit der Mathe­ma­tik. Und dann ist es halt auch was gewor­den mit der Mathe­ma­tik. Weil bei jeder Prü­fung was pas­siert ist. Was Gutes. Ganz oft. Des­halb ist der Bren­eis einer der jüngs­ten Mathematik-​Master aller Zei­ten an der JKU gewor­den. Mit gerade ein­mal 20 Jah­ren.

„Mathe­ma­tik kann unheim­li­che Freude brin­gen, wenn man sie ver­steht, und gleich­zei­tig tief ver­zwei­feln las­sen, wenn man nicht mit­kommt.“ Auch so was sagt der Bren­eis. Da spürt man dann ein biss­chen, dass er ver­liebt ist. In das, was er tut. Und so, wie man bei der Liebe ja auch nicht weiß, warum sie einen erwischt, weiß der Bren­eis Simon auch nicht so genau, warum das mit der Mathe­ma­tik und ihm halt so ist, wie es ist. Da kann man sich nicht weh­ren, sagen die Leute. Also gegen die Liebe, die fällt halt hin, wo sie hin­fällt. Beim Bren­eis zur Mathe­ma­tik. Oder bei der Mathe­ma­tik zum Bren­eis. Das kann man sehen, wie man mag. Und wahr­schein­lich ist bei­des rich­tig. Aber die Geschichte vom Simon und der Mathe­ma­tik sagt auch was vom Träu­men. Weil es ist ja schön, wenn man so träumt. Nur, wenn dann nix davon über­bleibt, wenn man nicht mehr schläft, was ist dann so ein Traum eigent­lich noch?

Gut, dass der Bren­eis das nicht ken­nen muss. Weil der lebt sei­nen Traum. Aber wenn man ihn so reden hört von Glei­chun­gen, Ver­mu­tun­gen und Funk­tio­nen, dann spürt man, dass der Bren­eis noch Pläne hat. Und Träume. Vom Den­ken, vom Rech­nen und vom Lösen gro­ßer Rät­sel. Und dann hat man von einem 20-​jährigen Mathe­ma­ti­ker ganz viel gelernt. Von der Liebe, vom Glück und vom Glück­lich­sein. Und des­halb ist der Bren­eis nicht nur gescheit, son­dern wirk­lich weise. 

Die Wis­sen­schaft, dar­über kann es keine zwei Mei­nun­gen geben, ist eine auf­re­gende Sache. In jeder Aus­gabe wid­men wir ihr des­halb die letz­ten Zei­len. Die­ses Mal schreibt Simon Bren­eis, wis­sen­schaft­li­cher Pro­jekt­mit­ar­bei­ter am Insti­tut für Ana­ly­sis, über die Fas­zi­na­tion Mathe­ma­tik.

Von Simon Breneis
Kepler Salon Ausgabe 3/2020

Mut laben Seele

Eine Zu-​Mutung

Von Norbert Trawöger
Kepler Salon Ausgabe 3/2020

Ihr seid naiv! Zeit für Eutopie

Ein Spät­som­mer­abend, die Donau strömt wie flüs­si­ges Sil­ber, der Kell­ner­an­droid stellt mit zurück­hal­ten­der Ver­beu­gung zwei gold­schim­mernde Glä­ser Schlägl Kris­tall vor uns hin, denn ich bin eine libe­rale Auto­kra­tin, die viel Ver­ständ­nis für die Bedürf­nisse von Män­nern hat. Und trotz­dem haben die Augen mei­nes Nef­fen ihren Glanz ver­lo­ren. War ich zu harsch mit ihm? Bestimmt. Man redet der Jugend nicht ihre Zukunfts­vi­sio­nen schlecht. Ich lege meine Hand auf seine Schul­ter. „Wenn du es wirk­lich willst, kannst du natür­lich BWL stu­die­ren!“ Sein Kinn zit­tert. „Es ist mir egal, ob das eine brot­lose Kunst ist, ich will Unter­neh­mens­be­ra­ter wer­den!“, sagt er, und es klingt nicht so trot­zig, wie er denkt.

Er hat es nicht leicht als Paten­kind einer Des­po­tin. Noch dazu einer, die es gegen die Wirt­schafts­elite durch­ge­setzt hat, dass Men­schen radi­kal nach dem gesell­schaft­li­chen Wert ihrer Arbeit und ihren Mög­lich­kei­ten bezahlt wer­den. Da macht man sich ein Geschwa­der an Fein­den, und Sip­pen­haft ist für Mar­vin kein Fremd­wort. Aber anders hätte das Matri­ar­chat keine Mehr­heit gefun­den. Bizarr eigent­lich, dass wir Frauen uns Jahr­tau­sende lang der­ma­ßen sek­kie­ren las­sen haben! Und dass es die­ser Seu­che bedurfte, um die Revo­lu­tion aus­zu­lö­sen! Was die Jun­gen heut­zu­tage gern ver­ges­sen, weil es ihnen schon zu gut geht unter mei­ner Obhut: 85 Pro­zent der ver­lo­re­nen Arbeits­plätze waren jene von uns Frauen! Gleich­zei­tig haben sich die Her­ren vor­ge­stellt, dass wir zu Hause unbe­zahlt put­zen, pfle­gen, kochen, unter­rich­ten – und dann auch noch Diät hal­ten, damit wir wäh­rend des Lock­downs nicht blad wer­den. Darum ist es mir unge­mein wich­tig, dass „Frau­en­ko­lo­nia­lis­mus“ heute, zwan­zig Jahre spä­ter, im Lehr­plan aller Schu­len steht. Jetzt lernt jedes Kind Gerech­tig­keits­ge­schichte – wenn sie hören, dass Frauen noch im 20er-​Jahr 41 Pro­zent weni­ger Pen­sion bekom­men haben, rei­ßen die Klei­nen die Augen auf.

„Muss es denn unbe­dingt BWL sein?“, frage ich den ein­zi­gen Sohn mei­nes Bru­ders, „wie so ein Betrieb geht, ist doch keine Wis­sen­schaft.“ „Aber der Staat ist ein schlech­ter Wirt­schaf­ter …“, will er sagen, doch ich haue so fest auf den Tisch, dass die ande­ren Gäs­tin­nen sich zu uns umdre­hen. „Ich bin der Staat!“ Gut, ein Tot­schlag­ar­gu­ment. „Und wir sind ein stink­rei­ches Land!“ Mar­vin gibt noch nicht auf: „Es gibt so viel Spar­po­ten­zial! Ohne Wett­be­werb feh­len uns die Inno­va­tio­nen!“ Jetzt werde ich böse. „Schatzi, du willst mich pro­vo­zie­ren, das ist dein gutes Recht. Aber es steht nicht ohne Grund in der öster­rei­chi­schen Ver­fas­sung, dass Koope­ra­tion Mit­tel unse­res Wirt­schaf­tens ist, WEIL ES OBJEK­TIV STIMMT!“ Der ganze Gast­gar­ten brummt zustim­mend wie ein Hum­mel­schwarm. Ich senke meine Stimme. „Wozu haben wir alles digi­ta­li­siert, wenn wir uns nicht das Leben schön machen? Lass’ die Men­schen doch so arbei­ten, wie es ihnen lus­tig ist, das geht sich alles aus!“ Er mur­melt etwas von „da ginge mehr fürs BNP“, ich knurre. „Mar­vin, willst du an den Stamm­ti­schen der Patri­ar­chen enden, die in ihre Biere wei­nen? Die grei­nen, dass der Markt alles regeln soll?“ Er schüt­telt den Kopf, nein, zu die­sen Außen­sei­tern will er nicht gehö­ren. Dann lächelt er end­lich. „Tante Domi­nika, ich hab’s! Die sit­zen im Abseits, weil der Markt wirk­lich alles regelt, drum haben sie nix mehr zu mel­den!“ Wir lachen beide herz­lich, er ist halt doch mein schlauer Lieb­lings­neffe, und nein, ich bin nicht trau­rig, dass es in mei­ner Fami­lie keine Stamm­hal­te­rin gibt. Was wäre denn das für ein mod­ri­ges Den­ken?

Oft fra­gen mich aus­län­di­sche Jour­na­lis­tin­nen, warum ich kapi­ta­lis­ti­sche Thinktanks als Sub­kul­tur nicht nur zulasse, son­dern sogar för­dere. „Schauen Sie“, sage ich, „die Mit­tel stellt meine Män­ner­mi­nis­te­rin zur Ver­fü­gung, um den sozia­len Frie­den zu gewähr­leis­ten.“ Damit dür­fen die Leis­tungs­fe­ti­schis­ten ihre schlecht besuch­ten Hayek-​Leseabende ver­an­stal­ten, Lyrik über ihre Sehn­sucht nach dem Neo­li­be­ra­lis­mus schrei­ben oder Ironman-​Triathlons orga­ni­sie­ren. Es ist wie mit Fuhr­knech­ten oder Berg­ar­bei­tern! Wir müs­sen auf die Men­schen schauen, beson­ders wenn ihre Bran­chen obso­let wer­den! Meine Posi­tion ist so gefes­tigt, dass sie es leicht aus­hält, wenn sich Markt­ro­man­ti­ker und Koope­ra­ti­ons­leug­ner daran rei­ben. Die Gerech­tig­keits­kri­ti­ker dür­fen behaup­ten, was sie wol­len, zum Bei­spiel den gan­zen Tag, dass man wegen der poli­ti­schen Kor­rekt­heit gar nichts mehr sagen darf. Sie müs­sen dafür nur eine Frei­kir­che grün­den, denn da geht es um per­sön­li­che Glau­bens­grund­sätze. Die Katho­li­ken glau­ben ja auch an eine jung­fräu­li­che Geburt, also wo fange ich bei den Privatisierungs-​ Eso­te­ri­kern an, wenn ich das ratio­nal angehe? Und warum auch? Ich will, dass die Men­schen glück­lich sind. Eine Dik­ta­to­rin hat Bes­se­res zu tun, als sich in das Pri­vat­le­ben ihres Vol­kes ein­zu­mi­schen. Aktu­ell denke ich etwa an einen Matriarchats-​Export in andere Län­der, aber nicht mili­tä­risch, son­dern durch Soft Power. Wie ich damals dem Trump den Krieg erklärt habe, per­sön­lich natür­lich, nur Schwäch­linge brau­chen Waf­fen, und ihn mit dem ers­ten Schwin­ger an sein brei­iges Kinn von den X-​Beinen geholt habe, das hat schon welt­weit Ein­druck gemacht.

So, jetzt wird es zu albern. Schluss mit die­sem demo­kra­tisch frag­wür­di­gen Tag­traum! Las­sen Sie mich den ver­blei­ben­den Platz hier seriös nut­zen. Ich bin keine Fein­din der Wirt­schaft. Wir sind ja alle Teil davon! Die­ser Text bewegt sich im Kreis­lauf der Waren, Sie lesen ihn, ich bekomme Geld dafür. Der Kapi­ta­lis­mus nervt bru­tal, aber Sachen kau­fen ist super: eine Hose, die genau so „lang“ wie meine Beine ist, neue Wan­der­schu­cherl, eine Fla­sche Cham­pa­gner für den Mann, den ich von allen am meis­ten mag (das habe ich fast ohne Wett­be­werb her­aus­ge­fun­den).

Sie wis­sen, eine Welt ohne ihre Aus­beu­tung kön­nen wir uns schwe­rer vor­stel­len als ihren Unter­gang, zumin­dest kann’s Hol­ly­wood nicht. Das Wich­tigste, das ich Ihnen hier ver­mit­teln möchte, ist mein Glaube an die Uto­pie. Und an den Auf­trag, unsere Vor­stel­lungs­kraft min­des­tens so zu trai­nie­ren wie unsere Bauch­mus­keln! Ich bin eine große Freun­din des Unwahr­schein­li­chen, des groß Geträum­ten, des schö­nen Lebens für alle. Das Gegen­teil der faden Weltuntergangs-​ Dys­to­pien ist die Euto­pie, der Zukunfts­op­ti­mis­mus. Den brau­chen wir.

Meine Mut­ter hat sich bis zuletzt über meine wach­sende Liebe zum Berg­stei­gen gewun­dert. Vor 41 Jah­ren hatte sie mich besorgt zur Kin­der­kar­dio­lo­gin getra­gen, weil mich das Erler­nen des auf­rech­ten Gan­ges so gar nicht reizte. „Nein, die ist nur faul“, sagte die Ärz­tin. Wenn also aus einem feis­ten Klein­kind („Pröbst­ling“) eine immer noch leicht feiste, aber sehr mobile Frau wer­den kann, wie viel mehr kann aus der Gesell­schaft wer­den? Warum sollte sich so wie das Wan­dern gegen die Träg­heit nicht auch die Ver­nunft gegen die Unge­rech­tig­keit durch­set­zen?

Und wie lus­tig ist es eigent­lich, wenn Ent­schei­dungs­trä­ger den Künst­le­rin­nen beschei­den, ihre Visio­nen und Pro­jekte seien schön und gut, aber nicht zu bezah­len – und dann selbst mil­li­ar­den­schwere Auto­bahn­pro­jekte aus­he­cken, für die sie Tun­nel durch Gra­nit gra­ben las­sen, Fels­wände spren­gen, Hek­to­li­ter Beton in Flüs­sen ver­sen­ken? Wäh­rend Schul­psy­cho­lo­gin­nen und Biblio­the­ken und Min­dest­si­che­run­gen zusam­men­ge­kürzt wer­den wie der Giersch in mei­nem Gar­ten? Wenn wir Luft­men­schen von einem Mil­li­ar­den­kon­junk­tur­pa­ket für den Sozi­al­be­reich oder ein Lan­des­kunst­schul­werk reden, lächeln die ver­meint­li­chen Rea­los milde. Dabei ist es ein­fach nur naiv, zu glau­ben, wir kämen ohne Uto­pien aus unse­rem Schla­mas­sel her­aus.

Von Dominika Meindl
Kunststücke Ausgabe 3/2020

Die zärt­liche Welt

Ein Essay von VALE­RIE FRITSCH. Vor­ge­tra­gen im Rah­men der lan­gen Nacht der Uto­pie an der JKU.