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Ausgabe 2/2021
Alle Gesichter
Ausgabe 2/2021

Alle Gesichter zum Down­load

Sie möch­ten mal aus Ihrer Haut her­aus und sich in andere hin­ein­ver­set­zen? Ver­ste­hen ler­nen, wie sich andere füh­len? Oder Sie haben etwas zu sagen, sind sich aber nicht sicher, ob Sie das auch dür­fen? Sie wol­len mit­re­den, glau­ben aber, nicht der rich­ti­gen Gruppe anzu­ge­hö­ren, und haben Angst, des­we­gen ein Sprech­ver­bot zu bekom­men? Dann kann Ihnen gehol­fen wer­den.
Wir haben ins­ge­samt fünf ver­schie­dene Cover­va­ri­an­ten unse­rer Print-​Ausgabe gestal­tet, mit fünf unter­schied­li­chen Mas­ken dar­auf. Hier haben wir alle Mas­ken zum Down­load gesam­melt.
Schnei­den Sie sich eine der Mas­ken aus und reden Sie mit!

Kommentar Ausgabe 2/2021

Entpört euch!

Die Debatte dar­über, was legi­time Kri­tik und was frei­heits­feind­li­che Zen­sur ist, wird här­ter und aggres­si­ver. Wie steht es wirk­lich um die Mei­nungs­frei­heit? Ein Essay von JOCHEN BITT­NER.  

Von Jochen Bittner
Entpört euch!
Was darf (nicht) gesagt werden?
Hintergrund Ausgabe 2/2021

Was darf denn (nicht) gesagt werden?

Seit Mona­ten arbei­tet sich das deutsch­spra­chige Feuil­le­ton am Begriff der „Can­cel Cul­ture“ ab und pro­phe­zeit das Ende der Demo­kra­tie. Haben die Kas­san­dra­ru­fer recht? Oder ist am Ende da jemand etwa ein biss­chen hys­te­risch?

Von Solmaz Khorsand
Im Gespräch Ausgabe 2/2021

Cancel Couture

Es gibt eine Obses­sion mit der „lin­ken Iden­ti­täts­po­li­tik“, so schreibt es der Autor Robert Misik in einem Gast­kom­men­tar in der Neuen Zür­cher Zei­tung, um im wei­te­ren Ver­lauf die Gegen­sätz­lich­keit zweier Stand­punkte als bloß ver­meint­lich zu ent­tar­nen. Trotz­dem seien behaup­tete Gegen­po­si­tio­nen auch hier vor­an­ge­stellt: Auf der einen Seite fän­den sich angeb­lich jene, die die soziale Frage ins Zen­trum ihrer Über­le­gun­gen stel­len. Und dann gäbe es die, deren Gedan­ken zur gerech­ten Gesell­schaft sich um einen ange­bo­re­nen Iden­ti­täts­be­stand­teil zen­trie­ren und ihn gewis­ser­ma­ßen los­ge­löst betrach­ten, was also heißt, dass sie zwar Ras­sis­mus und Sexis­mus struk­tu­rell erken­nen, nicht aber Klas­sis­mus. So weit, so ein­fach. Wer bloß binär den­ken kann, ist klar im Vor­teil, weil man dann nicht mit den Zwi­schen­tö­nen durch­ein­an­der­kommt und die eigene Mei­nung als Posi­tion unum­stöß­lich in der Land­schaft steht.

Can­cel Cul­ture von links, bedrohte Kunst­frei­heit, Selbst­vik­ti­mi­sie­rung als Waffe: Die Schlag­wör­ter sind bekannt. Aktu­ell ent­zün­den sie sich inner­halb des Thea­ter­be­triebs an einer Debatte, aus­ge­löst durch Ras­sis­mus­vor­würfe gegen­über dem Düs­sel­dor­fer Schau­spiel­haus: So schil­derte der Schau­spie­ler Ron Iyamu Ende März ras­sis­ti­sche Äuße­run­gen und Über­griffe in Pro­ben­si­tua­tio­nen. Dage­gen hielt der Dra­ma­turg Bernd Ste­ge­mann in einem Text in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung, wo er die Beson­der­heit der Pro­ben­si­tua­tion beschreibt: Ste­ge­mann sieht die Probe als Ort der Ent­gren­zung, an dem die Regeln des All­tags eben nicht gel­ten, ein Mög­lich­keits­raum gewis­ser­ma­ßen, in dem Kunst und Künst­ler* innen erst mal frei sind, ohne dass Ein­zelne diese Frei­heit für ihre Zwe­cke miss­brau­chen.

Die Frage nach dem Mög­lich­keits­raum der Probe ist unbe­dingt zu stel­len. Nicht als Argu­ment gegen Safe Spaces, das die Gren­zen des Rau­mes ziem­lich eng zieht und so mehr ver­un­mög­licht, als es eröff­net. Son­dern als ein Ein­tre­ten für das offene Aus­ver­han­deln des Spiel­felds als zukünf­ti­gen Com­mon Ground, in dem die Rea­li­tät durch die Kör­per der Betei­lig­ten als Rea­li­tä­ten stets prä­sent, aber nicht fest­ge­schrie­ben ist.

Denn ein Aus­blen­den die­ser Rea­li­tä­ten wäre wie deren Reduk­tion ins Sin­gu­lar, wäre Über­schrei­bung und gleich­zei­tige Zurich­tung der Kör­per, Zugriff und Aus­schluss, ein Abzie­hen der – wie Mithu San­yal in einer Replik auf Ste­ge­mann schreibt – „sozia­len Haut, (…) die es uns erlaubt, gleich­zei­tig Teil der Gesell­schaft und wir selbst zu sein – unver­letz­bar, weil eine Ver­let­zung von uns gleich­zei­tig eine Ver­let­zung der Gemein­schaft wäre“.  

Von Gerhild Steinbuch
Tessa Sima
Tessa Sima
Im Gespräch Ausgabe 2/2021

Cancel Culture zwischen verkürzten Argu­menten und legi­timem Akti­vismus?

Die man­nig­fal­ti­gen Kri­sen­er­schei­nun­gen des 21. Jahr­hun­derts (z.B. Finanz-​, Migrations-​ oder Corona-​Krise) ver­stärk­ten soziale Ungleich­hei­ten. Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund von Geschlecht, sexu­el­ler Ori­en­tie­rung, Eth­ni­zi­tät oder Reli­gion ist all­täg­lich. Daher ist der Bedeu­tungs­ge­winn von Social-​Media-Aktivismus wenig ver­wun­der­lich: Mar­gi­na­li­sierte Grup­pen nut­zen Platt­for­men wie Twit­ter oder Face­book, um soziale Unge­rech­tig­kei­ten breit zu kom­mu­ni­zie­ren und Ver­ant­wort­li­che unmit­tel­bar zur Rechen­schaft zu zie­hen.

Die­ses Vor­ge­hen wird als can­celn bezeich­net und hat u.a. erfolg­reich Eli­ten aus Poli­tik, Wirt­schaft, Kul­tur, aber auch Wis­sen­schaft unter Druck gesetzt (z.B. #metoo oder #black­li­ve­s­mat­ter). Poten­zi­ell führt die­ses Vor­ge­hen also zur Ermäch­ti­gung von Opfern oder Benach­tei­lig­ten, unter­bin­det die Repro­duk­tion von Unge­rech­tig­kei­ten und rei­nigt den öffent­li­chen Dis­kurs von pro­ble­ma­ti­schen Akteur*innen oder Inhal­ten.

Warum also hat die Can­cel Cul­ture eine nega­tive Kon­no­ta­tion? Sind deli­be­ra­tive Demo­kra­tien doch auf aktive Bür­ger*innen ange­wie­sen, die am öffent­li­chen Dis­kurs teil­ha­ben, gesell­schaft­li­che Pro­bleme iden­ti­fi­zie­ren und mit­tels fak­ti­scher Argu­mente schäd­li­che Dis­kurs­ele­mente ent­fer­nen (Haber­mas).

Der für die­sen Dis­kurs not­wen­dige Mög­lich­keits­raum hat sich aber suk­zes­sive ver­engt: Einer­seits for­cier­ten poli­tisch meist rechts ver­or­tete Kräfte mit­tels popu­lis­ti­scher Rhe­to­rik eine abso­lute „Wir gegen Sie“-​Logik, die emo­tio­na­li­siert und das fak­ti­sche Argu­ment ver­drängt. Ande­rer­seits eta­blierte sich, ins­be­son­dere in poli­tisch links ori­en­tier­ten pro­gres­si­ven Krei­sen, eine dog­ma­ti­sche Kul­tur des poli­tisch Kor­rek­ten, deren mora­li­sche Fun­die­rung auch bei kom­ple­xen Sach­fra­gen unhin­ter­frag­bar wirkt. Was ein­zelne Akteur*innen aber als kor­rekt ver­ste­hen, bleibt im Social Media gestütz­ten Mei­nungs­aus­tausch meist unspe­zi­fisch und bie­tet Kon­flikt­po­ten­zial inner­halb pro­gres­si­ver Grup­pen.

Und hier zeigt sich das Pro­blem der Can­cel Cul­ture: Ohne dis­kur­si­ves Aus­ver­han­deln von Posi­tio­nen droht die Gefahr, dass eine Can­ce­la­tion auf das oft unter­stellte „Lyn­chen“ von Indi­vi­duen redu­ziert wird, aber die dahin­ter­lie­gen­den legi­ti­men Anlie­gen von mar­gi­na­li­sier­ten Per­so­nen­grup­pen von dem Spek­ta­kel inhalt­lich ver­eng­ter Social-​Media-Konflikte ver­drängt wer­den. Was schluss­end­lich auch ver­hin­dert, dass die ein­gangs ange­spro­che­nen sozia­len Unge­rech­tig­kei­ten eine Auf­ar­bei­tung erfah­ren. Und genau die­ser Dis­kurs wäre für Gesell­schaf­ten zen­tral, da er das Poten­zial für soziale Kohä­sion schaf­fen könnte.

Von Dimitri Prandner
Wissen Ausgabe 2/2021

Mathe­matik verkehrt herum

Weit drau­ßen im Welt­all sto­ßen wir auf einige der größ­ten Rät­sel der Wis­sen­schaft. Die Mathe­ma­tik, mit der man sie ent­schlüs­seln kann, hängt eng mit kon­kre­ten irdi­schen Anwen­dungs­ge­bie­ten zusam­men, etwa mit der Com­pu­ter­to­mo­gra­phie. An der Kep­ler Uni­ver­si­tät forscht man an „inver­sen Pro­ble­men“, die oft uner­war­tete Erkennt­nisse brin­gen – über das Innere unse­res eige­nen Kör­pers genauso wie über die Geheim­nisse des Kos­mos.  

Von Florian Aigner
Auf diesem Bild sieht man die zwei Spiralgalaxien NGC 5426 und NGC 5427, die so wirken, als wären sie in einem faszinierenden wirbelnden Tanz miteinander. Das dabei entstehende astronomische Objekt hat den Namen Arp 271. In Millionen von Jahren werden beide dann zu einem einzigen Objekt verschmelzen.
Ein Grabstein auf einem Friedhof.
Hintergrund Ausgabe 2/2021

Stimmen aus dem Jenseits

Die Mög­lich­kei­ten einer digi­ta­len Welt könn­ten unsere Trau­er­ar­beit nach­hal­tig ver­än­dern. Was wäre, wenn wir geliebte ver­stor­bene Men­schen in einer vir­tu­el­len Welt wie­der­tref­fen könn­ten? Oder wenn gar wir selbst unse­ren Tod selbst­be­stimmt über­dau­ern könn­ten? Der Traum vom ewi­gen digi­ta­len Leben birgt jedoch nicht nur Hoff­nung, son­dern auch Gefahr.

Von Saskia Jungnikl-Gossy
Wissen Ausgabe 2/2021

„Im Talar sitzt eine Rich­terin, keine Maschine“

Der neue Schwer­punkt „Pro­ce­du­ral Justice“ an der JKU Linz rich­tet das Augen­merk auf die Wege, die zur Umset­zung von Recht füh­ren. Ein For­schungs­ge­gen­stand sind die Mög­lich­kei­ten und Gren­zen des Ein­sat­zes von Künst­li­cher Intel­li­genz in der Gerichts­bar­keit.

Von Benedikt Kommenda
Die Nadel eines Lügendetektors schlägt aus.
Rektor Meinhard Lukas mit dem Roboterhund Spot.
Visionen Ausgabe 2/2021

Durch­blick für Spot

Der berühmte Robo­ter­hund von Bos­ton Dyna­mics kommt an die JKU. Für ein Pro­jekt des Ars Elec­tro­nica Fes­ti­vals 2021 soll er mit einem zusätz­li­chen Sinn aus­ge­stat­tet wer­den.

Von Thomas Brandstetter
Hintergrund Ausgabe 2/2021

Die Fair­ness der Bauan­lei­tung

Algo­rith­men bestim­men das Leben in immer grö­ße­rem Aus­maß, im Guten wie im Schlech­ten. Sie wer­den oft dafür kri­ti­siert, Dis­kri­mi­nie­run­gen wei­ter­zu­tra­gen. Das Pro­blem liegt aber oft tie­fer.

Von Jonas Vogt
Thomas Brezina
Campus Ausgabe 2/2021

Die Kraft der Begeis­te­rung

Schuhe gibt es in ver­schie­de­nen Far­ben, For­men und Grö­ßen. Damit für jeden etwas dabei ist. Warum soll das bei Wis­sen und Wis­sen­schaft anders sein? Mit ihrem bun­ten Ange­bot für Kin­der, unter ande­rem dem „Zir­kus des Wis­sens“ und der bald erschei­nen­den drit­ten Aus­gabe des „Tri­bün­chens“, hat sich die JKU Linz genau die­sem Gedan­ken ver­schrie­ben: Wis­sen­schaft span­nend zu machen. Weil jedes Kind das Recht auf Wis­sen und Erkennt­nis hat.

Von Thomas Brezina
Im Gespräch Ausgabe 2/2021

Somnium - Der Traum von Wissen­schaft

Manch­mal, in schlech­ten Näch­ten, träume ich vom Krieg. Ich träume davon, was meine Eltern ver­lo­ren haben: ihr Geschäft, ihre Arbeit. Ich träume von mei­ner Stadt, dem Lachen auf den Spiel­plät­zen mei­ner Kind­heit. Dem Bäcker, dem Geruch in den Stra­ßen, dem Basar und den Gebe­ten in der Moschee. Von einer Stadt, die es nicht mehr gibt, von Erin­ne­run­gen an Ecken, die Pan­zern und Gra­na­ten gewi­chen sind. Vom Feuer, das den Basar ver­nich­tet hat.

Als Kin­der und Jugend­li­che kann­ten wir Flücht­linge. Es waren Men­schen aus dem Irak, die vor dem Krieg nach Syrien geflo­hen sind. Da denkt man nicht, wie schnell man selbst in so einer Situa­tion sein kann. Natür­lich haben wir in Aleppo im Früh­ling 2011 fern­ge­se­hen. Viele waren auf der Straße. Nie hät­ten wir gedacht, dass nur wenige Monate spä­ter aus den Pro­tes­ten ein Bür­ger­krieg wird.

Die ers­ten Angriffe auf Aleppo und auf unsere Uni­ver­si­tät waren scho­ckie­rend. Wir konn­ten nicht glau­ben, dass Syrer auf Syrer schie­ßen. Genauso wenig, wie schnell sich das Leben ändert. Aus den Träu­men mei­ner Genera­tion von einem guten, schö­nen, freien Leben wurde das Gefühl, dass es keine Hoff­nung mehr gibt. Dass Über­le­ben der letzte Traum ist, der einem noch bleibt. Ein Traum, der aber wie ein nicht enden­der Alb­traum aus­sieht. Men­schen ver­lie­ren Geld, Arbeit und Hoff­nung. Das Leben domi­nie­ren schlaf­lose Nächte, gefolgt von hoff­nungs­lo­sen Tagen, gefüllt mit schreck­li­chen Erleb­nis­sen.

2015 habe ich mich ent­schie­den, Aleppo und Syrien zu ver­las­sen. Ich wollte mein Herz, mei­nen Kopf und meine Gedan­ken nicht dem Krieg geben. Ich wollte neh­men, was mir der Krieg gelas­sen hat, und es in die Welt tra­gen. Ich wollte wie­der träu­men. Groß träu­men. Träu­men von mor­gen und nicht von ges­tern.

2017 habe ich an der JKU mein Mas­ter­stu­dium Mole­cu­lar Bio­logy begon­nen und 2020 abge­schlos­sen. Das Borealis-​MORE-Stipendium der JKU half mir finan­zi­ell, aber auch men­tal. Jetzt arbeite ich als Dok­to­ran­din am Insti­tut für Bio­phy­sik.

Ich trage ein Kopf­tuch. Es steht für meine Reli­gion und meine Hei­mat und für eine Genera­tion jun­ger Syre­rin­nen und Syrer. Wir haben viele ver­lo­ren. Ich träume von einem Syrien, in dem das ent­schei­det, was in unse­ren Köp­fen ent­steht. Einem Syrien der Wis­sen­schaft, der Offen­heit, des Respekts und des Glau­bens an unsere gemein­same Zukunft. Es ist ein gro­ßer Traum – aber es ist ein Traum für mor­gen. Ich träume davon, dass wir es schaf­fen. 

Die Wis­sen­schaft, dar­über kann es keine zwei Mei­nun­gen geben, ist eine auf­re­gende Sache. In jeder Aus­gabe wid­men wir ihr des­halb die letz­ten Zei­len. Die­ses Mal spricht Hadil Najjar, die ihr JKU Stu­dium mit Unter­stüt­zung eines Borealis-​MORE-Stipendiums absol­viert hat. Es rich­tet sich an Stu­die­rende mit Flucht­hin­ter­grund.

Die­ser Arti­kel könnte Sie auch inter­es­sie­ren: Som­nium - Der Traum von Wis­sen­schaft mit Richard Küng

JKU Wissenschaftlerin Hadil Najjar in ihrem Labor.
Ausgabe 2/2021

Ich habe einen Raum

Eine Ver­or­tung von Nor­bert Tra­wö­ger.

Von Norbert Trawöger
Kepler Salon Ausgabe 2/2021

Sag, wie hast du’s mit der Iden­tität?

Es ist so ein­fach wie trendy, Iden­ti­täts­po­li­tik für das Ver­sa­gen lin­ker Poli­tik ver­ant­wort­lich und sich im glei­chen Atem­zug dar­über lus­tig zu machen. Statt mit Macht-​ und Ver­tei­lungs­fra­gen beschäf­tige man sich nun mit Gen­der­stern­chen und Unisex-​Toiletten. Pro­mi­nente Kri­ti­ker*innen wie Fran­cis Fuku­yama, Sla­voj Žižek und zuletzt Sahra Wagen­knecht gehen sogar so weit, der Iden­ti­täts­po­li­tik das Erstar­ken rechts­po­pu­lis­ti­scher Strö­mun­gen anzu­krei­den: Statt sich um öko­no­misch Aus­ge­beu­tete zu sor­gen, kon­zen­triere man sich auf die Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen immer klei­ne­rer sozia­ler Grup­pen und ver­liere das große Ganze aus den Augen. Statt uni­ver­sa­lis­tisch und ver­ei­ni­gend zu agie­ren, würde man so erst recht zu gesell­schaft­li­cher Spal­tung bei­tra­gen.

Die­ser Vor­wurf stimmt dann, wenn Iden­ti­tät als fun­da­men­tal und essen­tia­lis­tisch ver­stan­den wird und in wei­te­rer Folge die dar­aus resul­tie­rende Gruppe als homo­gen. Soziale Iden­ti­tä­ten sind aber eben nicht unbe­weg­lich und exklu­siv und ent­sprin­gen auch nicht einer homo­ge­nen „Essenz“ unse­res Wesens, das schon immer war und auch in Zukunft immer so sein wird. Viel­mehr gilt es, Iden­ti­tä­ten als kon­text­ab­hän­gig, inter­sek­tio­nal und – zu einem hohen Grad, wenn auch nicht voll­stän­dig – wan­del­bar wahr­zu­neh­men. Die eigene Posi­tio­nie­rung als Mit­glied einer Reli­gi­ons­ge­mein­schaft bedeu­tet eben nicht, dass man nicht auch eine geschlecht­li­che, natio­nale, sexu­elle oder eth­ni­sche Iden­ti­tät hat, und dass diese unter­schied­li­chen Iden­ti­tä­ten nicht ab und an auch in Kon­flikt mit­ein­an­der ste­hen kön­nen. Ver­schie­dene Kon­texte akti­vie­ren bestimmte Grup­pen­zu­ge­hö­rig­kei­ten, wäh­rend sie andere in den Hin­ter­grund tre­ten las­sen. Poli­ti­sche For­de­run­gen aus der Zuge­hö­rig­keit zu einer Gruppe abzu­lei­ten, bedeu­tet auch nicht, dass aus der Iden­ti­tät als Frau oder als Homo­se­xu­elle zwin­gend bestimmte Merk­male, Hal­tun­gen oder Ein­stel­lun­gen fol­gen müs­sen. Wird diese Dyna­mik der sozia­len Posi­tio­nie­rung auf­grund der Rea­li­tät mul­ti­pler Zuge­hö­rig­kei­ten aus­ge­blen­det und Iden­ti­tät als sta­tisch, binär und gege­ben ange­se­hen, so grei­fen dar­auf auf­bau­ende poli­ti­sche For­de­run­gen in der Tat zu kurz.

Denn genauso wie Iden­ti­tät und Zuge­hö­rig­keit ist auch Soli­da­ri­tät nicht starr und kon­ti­nu­ier­lich. Eine viel­fäl­tige und sich immer rascher ver­än­dernde Gesell­schaft bringt auch ste­tig wech­selnde Soli­da­ri­tä­ten her­vor. Beim Aus­bruch der Corona-​Krise erlebte Öster­reich eine neue Soli­da­ri­tät mit älte­ren Men­schen – der etwas unglück­lich titu­lier­ten Risi­ko­gruppe. Das war in sei­ner kon­kre­ten Aus­for­mung doch erstaun­lich, bestimm­ten doch bis kurz vor Aus­bruch der Pan­de­mie hit­zige Debat­ten über Genera­tio­nen­kon­flikt, des­il­lu­sio­nierte „Millen­ni­als“ und pri­vi­le­gierte „Boo­mer“ den media­len Dis­kurs. Die­ses abrupt for­mierte Bewusst­sein für die Not­wen­dig­keit der Soli­da­ri­sie­rung aus einer fast kon­trä­ren Situa­tion her­aus ver­sinn­bild­licht, wie unstet und wech­sel­haft Soli­da­ri­tä­ten sein kön­nen.

Der Sozio­loge Jörg Fle­cker und seine Kol­leg*innen iden­ti­fi­zie­ren in Umkämpfte Soli­da­ri­tä­ten gar sie­ben ver­schie­dene For­men von Soli­da­ri­tät, von uni­ver­sel­ler Hil­fe­leis­tung bis hin zu mora­li­scher Ver­pflich­tung. Ihnen allen gemein ist Nähe als Grund­vor­aus­set­zung: Um soli­da­risch han­deln zu kön­nen, bedarf es einer ver­tie­fen­den Aus­ein­an­der­set­zung mit jenen, denen man seine Soli­da­ri­tät ange­dei­hen lässt. Des­halb ste­hen hin­ter ver­schie­de­nen Aus­for­mun­gen von Soli­da­ri­tät unter­schied­li­che Kate­go­rien des „Wir“: Wird Zuge­hö­rig­keit natio­nal defi­niert, also anhand der­sel­ben Staats­bür­ger­schaft, oder kul­tu­rell, also anhand der­sel­ben Abstam­mung? Sind es wir, die Leis­tungs­trä­ger*innen, oder wir, die aus dem­sel­ben sozia­len Milieu stam­men? Wir, die Frauen, oder wir, die Arbei­ter*innen? Je nach Situa­tion sind diese Kate­go­rien flie­ßend, sie ver­än­dern sich im Laufe der per­sön­li­chen Bio­gra­fie genauso wie nach sozia­lem Kon­text oder auf­grund gro­ßer glo­ba­ler Umwäl­zun­gen wie eben einer Pan­de­mie.

Aus die­sem Blick­win­kel betrach­tet ist Iden­ti­täts­po­li­tik alles andere als die banale Nabel­schau einer fehl­ge­lei­te­ten lin­ken Poli­tik. Wie wir unsere Zuge­hö­rig­kei­ten und dar­aus fol­gend unsere (wech­seln­den) Soli­da­ri­tä­ten defi­nie­ren, ist Grund­lage für poli­ti­sches Han­deln und poli­ti­sche For­de­run­gen. Mit wel­chem „Wir“ man sich iden­ti­fi­ziert, zu wel­chem man zuge­hö­rig sein will und kann, bedingt auch die inhalt­li­che Posi­tio­nie­rung. Nicht erst seit dem Jahr 2021 ist Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit ein bestim­men­des sozia­les Ele­ment. Das „Wir“, in das man ein- oder aus dem man aus­ge­schlos­sen wird, ent­schei­det über beruf­li­ches Vor­an­kom­men, Bil­dungs­chan­cen, Gesund­heit und Lebens­er­war­tung, Wohn­ver­hält­nisse und Über­le­bens­chan­cen in Zei­ten der Krise. Iden­ti­tät und mate­ri­el­les Inter­esse gehen Hand in Hand.

„Iden­ti­tät war immer schon“, kon­sta­tiert des­halb die Sozio­lo­gin Paula-​ Irene Villa Bras­lavsky und meint damit, dass seit der Moderne jede Form der poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung ein Ein­tre­ten für bestimmte soziale Grup­pen war. Die ver­meint­li­che Neu­tra­li­tät, die vor der neu­mo­di­schen Iden­ti­täts­po­li­tik geherrscht haben soll, gab es nie. Denn die wesent­li­che Frage, die hin­ter der Gestal­tung poli­ti­scher Maß­nah­men steht, ist, wer als die Norm für eben­diese gilt, und wer als seine Abwei­chung. Lange Zeit galt der Mann als das All­ge­mein­gül­tige, wäh­rend die Frau als das „andere Geschlecht“ und somit als außer­halb des All­ge­mei­nen defi­niert war, wie es Simone de Beau­voir in ihrem femi­nis­ti­schen Fun­da­men­tal­werk aus­drückte. Genau darin zeigt sich auch die Iro­nie der Kri­tik an Iden­ti­täts­po­li­tik: Tat­säch­lich geht es Strö­mun­gen wie dem Femi­nis­mus oder Anti­ras­sis­mus weni­ger um selek­tive Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen nach immer klei­ne­ren Zuge­hö­rig­kei­ten, son­dern darum, dass Grund­rechte wie Schutz vor Poli­zei­ge­walt, Recht auf Ehe und Fami­lie oder Gleich­be­hand­lung vor dem Gesetz all­ge­meine Gül­tig­keit erlan­gen, also tat­säch­lich für alle und nicht für eine bestimmte Iden­ti­tät (die bis­he­rige, eng gefasste Norm) gel­ten. Aus die­sem Grund sei Iden­ti­täts­po­li­tik auch bes­ser als „Poli­tik für Min­der­hei­ten“ zu bezeich­nen, wie der Poli­to­loge Jan-​Werner Mül­ler argu­men­tiert. Die Bewe­gun­gen, die nun ver­kürzt unter dem despek­tier­li­chen Ban­ner der „Iden­ti­täts­po­li­tik“ zusam­men­ge­fasst wer­den, eint also, dass sie für eine radi­kale Neu­de­fi­ni­tion des „Wir“ kämp­fen – weil es eben klare mate­ri­elle Vor­teile mit sich bringt, Teil davon zu sein. Für das „Wir“ gel­ten Grund­rechte, die für „die Ande­ren“ noch immer nicht selbst­ver­ständ­lich sind. Des­halb ver­su­chen Black Lives Mat­ter oder die Trans*Bewe­gung, indi­vi­du­elle Ver­wund­bar­keit all­ge­mein bewusst­zu­ma­chen, dar­aus resul­tie­rende Ver­let­zun­gen ernst zu neh­men und sie gleich­zei­tig zu mini­mie­ren, wie man es im Rück­griff auf Judith Shklars Libe­ra­lis­mus der Furcht for­mu­lie­ren könnte. Diese Ver­wund­bar­keit durch Gewalt oder Ungleich­be­hand­lung ist bedingt durch Aus­schluss aus dem „Wir“, das über die recht­li­che wie soziale Ord­nung bestimmt.

Die mit­un­ter schmerz­hafte Debatte um Iden­ti­tä­ten ist also des­halb so not­wen­dig und unum­gäng­lich, weil sie die radi­kale For­de­rung nach Über­win­dung von Aus­gren­zung bedeu­tet. Iden­ti­tä­ten blei­ben bestim­mend in einer Gesell­schaft, in der Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit die eigene Ver­wund­bar­keit oder eben Unver­sehrt­heit – kör­per­lich, öko­no­misch und poli­tisch – deter­mi­niert. Soziale Dif­fe­renz soll weder über­wun­den und negiert noch betont und feti­schi­siert wer­den. Sie soll nur uner­heb­lich für die Teil­habe am „Wir“ sein.

Von Judith Kohlenberger
Eine Innenaufnahme des Kepler Salons.