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Leezeichen_Credit_Dieter_Decker
Kepler Salon Ausgabe 4/2022

Exklu­sive Leer­zei­chen

Um sich einem Ding, einem Phä­no­men zu nähern, es mög­lichst tref­fend zu beschrei­ben, ist es oft hilf­reich, zu defi­nie­ren, was es – in die­sem Fall das Leer­zei­chen – nicht ist: Im Unter­schied zu Zei­chen haben Leer­zei­chen ihre eigene Wirk­lich­keit im Griff. Sie sind leer. Leer im Sinne von „kenos“ (griech.), was den Unter­schied zwi­schen Sei­en­dem und Nicht-​Seiendem ermög­licht. Leer­zei­chen wer­den gerne über­gan­gen und bei etwai­gen Calls und Aus­schrei­bun­gen in Wis­sen­schaft und Kunst inklu­siv gese­hen. „Abs­tract so und so viele Zei­chen inklu­sive Leer­zei­chen.“ Kein Fisch im Vogel­kä­fig. Was zählt, sind Zei­chen: „Bitte keine Leer­zei­chen in den Datei­na­men.“ Das Leer­zei­chen ent­hält keine Infor­ma­tion. – Ist dem so, ent­hält das Leer­zei­chen wirk­lich keine Infor­ma­tion? Oder ist es viel­mehr der Platz oder Platz­hal­ter einer ver­sag­ten Infor­ma­tion?

Von Barbara Ungepflegt
Kepler Salon Ausgabe 4/2022

Wenn ich nur aufhören könnt …

Nor­bert Tra­wö­ger denkt übers Auf­hö­ren nach und bemerkt, dass die­ses min­des­tens zweier Anfänge bedarf – den, an dem alles beginnt, und den, an dem das Auf­hö­ren anfängt.

Von Norbert Trawöger
Norbert Trawöger; Credit: Bernhard Winkler
(c) Dieter Decker
Kepler Salon Ausgabe 3/2022

„Mitwelt“ statt „Umwelt“

Ein Denk­an­stoß zum „wording“ in der Kli­ma­krise

Von Thomas Mohrs
Kepler Salon Ausgabe 3/2022

Am Anfang steht Ansfelden.

Am Anfang steht Ans­fel­den, nicht Städte wie Bonn, Ham­burg oder Wien. Die Welt­haupt­stadt der Musik war Anzie­hungs­ort und oft End­punkt für Klang­schaf­fende. Der junge Lud­wig van Beet­ho­ven kam aus Bonn, um bei Wolf­gang Amadé Mozart in Wien in die Lehre zu gehen. Der hatte gerade keine Zeit für ihn. Als Beet­ho­ven wie­der­kehrte und blieb, war Mozart schon tot. So nahm er bei Joseph Haydn Unter­richt. 1872 über­sie­delte der in der Han­se­stadt Ham­burg gebo­rene Johan­nes Brahms für sein letz­tes Lebens­vier­tel­jahr­hun­dert nach Wien, wo er 1897 knapp ein hal­bes Jahr nach Anton Bruck­ner starb. Gestor­ben sind sie alle in Wien, die gro­ßen Män­ner der ver­gan­ge­nen Musik­ge­schichte. Das hat sich geän­dert, wie Kom­po­nis­tin­nen viel zu lang­sam, aber sicher mehr Rolle spie­len, wenn auch die Musik in der Gesell­schaft eine ganz andere.

Aber zurück zum Anfang und Ans­fel­den. Am 4..Sep­tem­ber.1824 wird dort Anton Bruck­ner als ers­tes von elf Kin­dern – von denen fünf über­le­ben. – gebo­ren. Als Sohn von The­re­sia (1801–1860) und Anton Bruck­ner (1791–1837), der als Schul­leh­rer und Kir­chen­mu­si­ker in Ans­fel­den tätig war. Anton Bruck­ner kommt vom Land, das er und das ihn nie ver­ließ, selbst als er seine letz­ten Lebens­jahr­zehnte in der Donau­me­tro­pole Wien ver­bracht hat. Wenige Kom­po­nis­ten von Welt­rang kom­men aus länd­li­chem Umfeld. Hier ereig­nete sich Bruck­ner zwi­schen Kyrie rufen und Land­ler­schrit­ten, Tanz­bo­den und Kirch­tür­men, Hügeln und Wäl­dern. Wer hört, der kann es hören. Eigen war er ganz gewiss. Bruck­ner gehört zu uns, gehört uns aber nicht. Seine Musik gehört der gan­zen Welt, wird in der gan­zen Welt gespielt und gehört. Bruck­ner ist mehr als Ober­ös­ter­reich, von wo er auf­brach. Er ist Welt, aber er kommt von die­sem Land, die­sem Ort: „Locus iste“ – was nichts ande­res heißt als „Die­ser Ort“ – sind die Anfangs­worte der latei­ni­schen Motette für vier­stim­mi­gen gemisch­ten Chor, die zu Bruck­ners Welt­hits zählt.

Die Sorge von Bruck­ners Vater für die Kir­chen­mu­sik des Orts galt früh dem musi­ka­li­schen Sohn. Viel­leicht, weil es sich so gehört hat. Sein Feuer wurde ange­zün­det, die Blas­bälge der Ans­feld­ner Orgel sorg­ten für reich­li­che Sauer­stoff­zu­fuhr. Die Orgel ist der Ort, an dem Bruck­ner sein Hand­werk anzu­le­gen beginnt. Über dem Hügel lag Sankt Flo­rian, es liegt dort immer noch, wie der Ent­fachte selbst unter sei­ner Orgel. Das Stift war für den blut­jun­gen Bruck­ner, wo er nach dem frü­hen Tod sei­nes Vaters Sän­ger­knabe wird, eine frühe Ahnung von einer ganz ande­ren Dimen­sion. (Eine Vor­ah­nung hat er wohl schon in Ans­fel­den erfah­ren. Der statt­li­che Pfarr­hof wurde –.wie das Stift – vom Barock­bau­meis­ter Carlo Anto­nio Car­lone erbaut, in dem die Pröbste von St. Flo­rian ihre Som­mer­fri­sche ver­brach­ten.) Die Tra­di­tion, der Kir­chen­raum expan­diert sein Vor­stel­lungs­ver­mö­gen. Bis heute staunt man über die Aus­maße des Stifts. Eine Groß­mäch­tig­keit, die durch­aus Ein­schüch­tern­des an sich hat und im bes­ten Fall Demut aus­zu­lö­sen ver­mag. In den Wei­ten und Engen des sakra­len Gehäu­ses wächst Bruck­ner heran. Und nicht nur das, die­ser steht auf dem Land, auf der grü­nen Wiese, nahe der grö­ße­ren Stadt Linz, die damals noch klei­ner und viel fer­ner war als heute.

Bruck­ner geht nach Linz, wird Dom­or­ga­nist. Im Lin­zer Thea­ter hört er Wag­ners „Tann­häu­ser“. Die­ses Ereig­nis wird ihm zum Erwe­ckungs­er­leb­nis, „gibt“ ihm die Erlaub­nis zum Eige­nen. Der Aus­bruch ist im Gange. Er sorgt selbst unab­läs­sig dafür. Hätte er nicht ein ewi­ger und unver­ges­se­ner Kir­chen­mu­si­ker blei­ben kön­nen? Ein welt­be­rühm­ter Orgel­im­pro­vi­sa­tor, der in Nancy, Paris und Lon­don im Klang­rausch Tau­sende Men­schen erobert. Mit über vier­zig Jah­ren bricht er end­gül­tig aus, um lebens­lang wie­der und wie­der aus­zu­bre­chen, auch aus dem Kir­chen­raum. Er fin­det sich und seine Spra­che im welt­li­chen Form­ge­lände der Sin­fo­nie. Sin­fo­nie­skulp­tu­ren von exzes­si­ven for­ma­len und tona­len Dimen­sio­nen, die wie fremd­ar­tige, unver­ständ­li­che Meteo­ri­ten ein­schla­gen. Sie sind ange­bun­den an die Tra­di­tion und bli­cken weit über die Hori­zonte zum Avant­gar­dis­ti­schen hin. Sie erzäh­len keine Ich-​Geschichten, son­dern schla­gen einen trans­per­so­na­len Raum auf. Erst mit der „Sieb­ten“ kann er im Alter von sech­zig Jah­ren einen ers­ten gro­ßen Erfolg in Leip­zig und Mün­chen fei­ern. Alles hat seine Gren­zen. Nur nicht Bruck­ner. „Er ist jen­seits“, drückt es sein Wie­ner Gegen­spie­ler Johan­nes Brahms aus. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fun­da­ment ver­wei­len“, ist ein Aus­spruch, der Bruck­ner in die Schuhe gescho­ben wird. Wenn­gleich des­sen Urhe­ber­schaft eine Unter­stel­lung zu sein scheint, gilt die­ser schöne Satz für Bruck­ners Schaf­fen in beson­de­rem Maße. Oben­drein wird die­ser Satz ebenso Aris­to­te­les ange­dich­tet. Für die­sen Fall ist er schon gut 2.100 J a h r e vor Bruck­ners Geburt gefal­len.

Der Zwei­fel fei­ert in unse­ren Tagen nicht unbe­dingt Hoch­feste. Oft und laut­stark etwas zu ver­kün­den, reicht oft als Wahr­heit aus. Etwas zu hin­ter­fra­gen, heißt nicht gleich, miss­trau­isch durch die Welt zu gehen. So sind viele Kli­schees und Wahr­hei­ten rund um Bruck­ner in Zwei­fel zu zie­hen. Er war gewiss ein from­mer Mann, aber kein Musi­kant Got­tes. Er ist in sei­ner Ambi­va­lenz und schein­ba­ren Wider­sprüch­lich­keit schwer zu fas­sen.

Wer sich mit dem Men­schen Bruck­ner befasst, muss sich aus­ein­an­der­set­zen, stößt auf Kri­sen, Zwei­fel und Beharr­lich­keit. Dies gilt auch für die Auf­füh­rungs­ge­schichte sei­nes Werks, in die sich zu oft epi­sche Brei­ten, Pathos und viel Weih­rauch imprä­gniert haben, ohne am Papier, in der Par­ti­tur wirk­lich mani­fest zu sein. Der Par­ti­tur auf der Spur zu sein, heißt in dem Sinn nichts ande­res, als Fra­gen zu stel­len. Die Ant­wor­ten dar­auf wer­den nicht weni­ger viel­fäl­tig aus­fal­len, denn letzt­lich ent­schei­det die Inter­pre­tin, der Inter­pret, was zumin­dest für den Moment des Erklin­gens wahr ist. Bruck­ner beherrschte sein kom­po­si­to­ri­sches Hand­werk wie wenige im 19. Jahr­hun­dert und begriff sich im Fluss der Musik­ge­schichte. Seine sin­gu­läre Musik zeugt vom Blick eines Avantgarde-​ Schaf­fen­den, der die Zukunft vor­aus­hört. Eine andere künst­le­ri­sche Per­spek­tive ein­nimmt als die meis­ten sei­ner Zeit­ge­nos­sen. Was Unver­ständ­nis her­auf­be­schwö­ren musste.

Fas­zi­nie­rend an sei­ner Musik ist, dass sie einem nicht ent­ge­gen­kommt. Es ist Musik, die offen ist, in die und der man sich bewe­gen, „rein­ge­hen“ kann, durch alle Poren der Klänge ein­drin­gen kann. Es ist keine Anbie­de­rungs­mu­sik. Was für eine Chance unse­rer Tage, den Flug­mo­dus unse­rer Mobil­te­le­fone in einen Hör­mo­dus zu trans­for­mie­ren und in den „Space“ der Klang­welt von Anton Bruck­ner ein-, viel­leicht auch abzu­tau­chen. Es ist eine Erfah­rung, die mehr als nur drei Minu­ten Dauer garan­tiert, man kann sich darin gesi­chert für min­des­tens eine Stunde ein­fin­den. Die Sin­fo­nien dau­ern bis zu 90 Minu­ten, was für eine geschenkte Zeit! „Wo ihr unüber­steig­li­che Schran­ken gesetzt sind, da beginnt das Reich der Kunst, wel­ches das aus­zu­drü­cken ver­mag, was allem Wis­sen ver­schlos­sen bleibt.

Ich beuge mich vor dem ehe­ma­li­gen Unter­leh­rer von Wind­haag“, sagt Adolf Exner, der Rek­tor der Wie­ner Uni­ver­si­tät, anläss­lich der Ver­lei­hung des Ehren­dok­to­rats an Anton Bruck­ner im Jahre 1891. Ich denke an „Das Lied von der Wirk­lich­keit“ von Georg Kreis­ler, in dem es heißt: „In der Wirk­lich­keit gibt’s nie Beweise, denn die Wirk­lich­keit, die ist wahr. Kommt mit mir auf eine wahre Reise vol­ler Traum und ohne Kom­men­tar. In der Wirk­lich­keit sind die Träume, die kein Phy­si­ker je beschreibt. Kommt mit mir in meine Zwi­schen­räume, wo kein Mensch die Wahr­heit über­treibt.“ Kreis­ler würde heuer sei­nen 100. Geburts­tag fei­ern. 2024 begeht Bruck­ner sei­nen 200. Geburts­tag. Zwei­fel­los eine gute Gele­gen­heit, uns mit ihm und uns aus­ein­an­der­zu­set­zen, uns in die Zwi­schen­räume zu bege­ben, dort, wo Nähe und Wirk­lich­keit statt­fin­den kön­nen. Nähe. Schon die Kürze des Worts lässt kaum Raum zur Distanz. Zei­ten der Unsi­cher­heit räu­men uns das Recht zum Zwei­fel min­des­tens so ein wie die Besin­nung dar­auf. Die Kunst legt uns das Mensch­li­che, das Mög­li­che nahe. Sie erin­nert uns daran, sie kann uns näher­brin­gen. Bruck­ner macht es uns mög­lich. „Fan­ta­sie ist nichts für die Exper­ten, die das Leben fürch­ten und den Tod“, so Georg Kreis­ler und mehr als ein Grund zum Fei­ern!

Von Norbert Trawöger
(c) Theresa Korherr
(c) Dieter Decker
Kepler Salon Ausgabe 2/2022

Das Orts­üb­liche ist nie das Mögliche!

NOR­BERT TRA­WÖ­GER fin­det, dass wir uns jen­seits des Gewohn­ten mehr für uns anstren­gen soll­ten.

Kepler Salon Ausgabe 2/2022

Das Leben ist schön, macht aber viel Arbeit

Das Leben ist schön, macht aber viel Arbeit H inter mei­nem Rücken bin ich zu einem eif­ri­gen Men­schen gewor­den, „udaungs“, wie meine Mühl­viert­ler Ahnen gesagt hät­ten. Im Ver­gleich zu ihrem exis­ten­zi­ell not­wen­di­gen Fleiß ist meine Emsig­keit natür­lich ein Witz. Auf dem Ster­be­bett hatte die Groß­mutter meine Hand in die ihre genom­men und gestrei­chelt, sie fuhr über­rascht über die Schwie­len. „Du bist ja doch eine für die Arbeit!“, sagte sie, und ich wagte nicht zu beken­nen, dass die Horn­haut bloß vom Frei­zeit­ver­gnü­gen in der Klet­ter­halle stammte.

Heute leis­tet mir die Sport­haut gute Dienste, ich kann die Gemü­se­beete umste­chen, ohne Bla­sen zu bekom­men, ich schaufle reich­lich Kom­post in die Scheib­truhe, ich schraube ohne Hand­schuhe einen wind­schie­fen Zaun zusam­men, damit mir die Nach­bar­hunde nicht die Wel­pin sek­kie­ren. Auch die Fuß­ma­schine läuft rund, damit lässt es sich den gan­zen Tag durch das Tote Gebirge stap­fen. Was ich nicht leis­ten kann: 40 Stun­den arbei­ten. Ich schaffe mal 20, mal 60 in der Woche, sel­ten 12 an einem Tag, aber einem Betrieb, einem Men­schen, einer Sache genau 40 Stun­den zu die­nen, dafür ist der Geist nicht wil­lig und das Sitz­fleisch zu schwach. Selbst­stän­dige Arbeit kann auch recht unbe­quem sein, aber dar­über zu jam­mern ist unge­fähr so ziel­füh­rend wie die Klage, dass es doch recht steil zum Gro­ßen Priel hin­auf­gehe.

Damit wir uns recht ver­ste­hen: Das hier wird nicht das ver­wöhnte Plä­doyer einer ver­wöhn­ten Frau, sich doch bitte auch ein freies Erwerbs­le­ben zu gön­nen. Nichts wäre zyni­scher ange­sichts Hun­dert­tau­sen­der Arbeits­su­chen­der, ange­sichts Zehn­tau­sen­der in eine aus­beu­te­ri­sche Schein­selbst­stän­dig­keit Gezwun­ge­ner oder ange­sichts der Über­for­de­rung von Pfle­ge­kräf­ten, Leh­rer*innen oder Putz­frauen. Es ist übri­gens nicht deren Leis­tung, die sich laut neo­li­be­ra­len Polit­funk­tio­när*innen wie­der loh­nen soll, son­dern die „Arbeit“ jener, die haupt­be­ruf­lich die Not­stands­hilfe kür­zen und Arbeits­lose demü­ti­gen. Dabei müsste in einer halb­wegs fai­ren Gesell­schaft das Geld ja wie ein war­mer Mai­re­gen auf alle her­ab­reg­nen, die uns die Kin­der erzie­hen und die Eltern pfle­gen und die Regale voll­räu­men. Das ist nicht das Plä­doyer für ein Recht auf die Faul­heit für Pri­vi­le­gierte. Die Steu­er­flücht­linge und Schein­rech­nungs­stel­ler*innen – und da sind wir uns einig, oder? – sind es ja, die in unse­rer sozia­len Hän­ge­matte schma­rot­zen.

Das hier ist eine Brand­rede gegen die fahr­läs­sige Ver­schwen­dung von Lebens­zeit – von eige­ner, und noch schlim­mer: von der Lebens­zeit der Mit­men­schen. Wer gerne 60 Wochen­stun­den für ein Unter­neh­men oder eine Idee brennt, ist beneidens-​ und lobens­wert. Wer aber aus­brennt, sind jene, die kei­nen tie­fe­ren Sinn in ihren Auf­ga­ben sehen, oder die sie nicht sinn­voll aus­füh­ren kön­nen. Ein Bur­nout droht jenen, die unter gewal­ti­gem Druck ste­hen, aber nicht von der Stelle dür­fen – in der ana­chro­nis­ti­schen Ben­zin­welt steht der Begriff „Bur­nout“ für die dumme Übung, im Stand den Motor so hoch­zu­ja­gen, dass die Rei­fen ste­hend in Rauch auf­ge­hen. Das Bild eig­net sich zum Ver­gleich.

In die­sem Sinn: Run­ter von der Bremse! Lasst uns hackeln! Ver­aus­ga­ben wir uns! Gibt es Bes­se­res, als sich in eine Auf­gabe zu ver­tie­fen und rundum alles zu ver­ges­sen? Es gibt Mil­lio­nen von euch da drau­ßen, die bes­sere Hun­de­zäune bauen, die küh­nere Berg­tou­ren wagen, die geschei­tere Texte schrei­ben als ich – und Mil­li­ar­den, die mit Freude und Talent pfle­gen, rei­ni­gen, kon­stru­ie­ren, leh­ren. Die­ses ewige Mau­len über die Fau­len, ich mag es nicht mehr hören. Die paar Lum­pis tra­gen wir mit unse­rer Tüch­tig­keit doch locker mit, genauso wie wir mit Stolz alle unter­stüt­zen sol­len, die aus guten und schlech­ten Grün­den nicht hackeln und tschinäul­len kön­nen. Es braucht kei­nen himm­li­schen Vater, der seine Vögel­chen nährt, obwohl sie nicht säen und ern­ten (Par­don, aber hier irrte Jesus übri­gens, denn ohne Tan­nen­hä­her keine Zirbe!). Ich mag nur nicht mehr jene schmerz­be­frei­ten Arbeit­ge­ber mit­tra­gen, die aus kal­tem Effi­zi­enz­den­ken ihre Mit­ar­bei­ter*innen in mona­te­lange Kran­ken­stände trei­ben. Eine düm­mere Ver­geu­dung will mir nicht ein­fal­len.

Wer am Stahl­ko­cher schwitzt, soll wei­ter gut bezahlt wer­den, wer unsere Groß­müt­ter aus dem Bett hebt, sowieso. Und wir Büro-​Ponys soll­ten unsere Lei­den­schaf­ten nicht für Hobby und Pen­sion auf­spa­ren. Ist es nicht eine gewal­tige Ver­schwen­dung, was wir da in der Arbeits­welt anstel­len, die­ses sehn­süch­tige War­ten auf Wochen­ende, Urlaub, Pen­sion? Bis dahin erle­di­gen wir das Auf­ge­tra­gene so, wie man uns frü­her zum Mathe­ma­tik­ler­nen ver­gat­tert hat, indem wir ein Micky-​Maus- ins HÜ-​Heft klem­men und heim­lich lesen, damit die Mama eine Ruh’ gibt. Der Begriff „Bore­out“ ist mitt­ler­weile fast so bekannt wie sein ver­meint­li­ches Gegen­stück „Bur­nout“: Die Betrof­fe­nen über­kommt das beklem­mende Gefühl, schon zu viel Lebens­zeit sinn­los in leere Abläufe inves­tiert zu haben. Starre Kon­strukte zer­mür­ben. Lei­der löst der Trend zum Home Office das Pro­blem auch nicht auto­ma­tisch – vom Ver­schmel­zen von Arbeit und Frei­zeit kann ich lange Lie­der sin­gen.

Wir ver­kau­fen einen schö­nen Teil unse­res Daseins. Ich bin gewiss die Letzte, die eine schnelle Lösung für die Befrei­ung aus Hier­ar­chien und für den Weg aus den Sack­gas­sen der Arbeits­welt parat hat. Aber ein wenig über den eige­nen Zugang nach­zu­den­ken scha­det nie. Etwa, dass wir aus­blen­den, wie viel von allen Sei­ten von uns ver­langt wird. In der Rush Hour des Lebens lau­fen wir Gefahr, uns auf die schlech­teste Art zu ver­aus­ga­ben. Die Kin­der wach­sen im Mai­re­gen in den Him­mel und brau­chen neue Schuhe, und der Mai­re­gen rinnt durch die Dach­luke, und die Eltern haben im bes­ten Fall ein Com­pu­ter­pro­blem, im schlech­tes­ten brau­chen sie eine 24-​Stunden- oder eine Grab­pflege. Uff, aber nur noch drei Wochen bis zum Well­ness­wo­chen­ende, und einen Abend pro Woche nimmt uns der Mann die Kin­der eh ab, damit wir Pila­tes machen kön­nen, damit wir nicht schiach wer­den und sich der Mann eine andere sucht, und damit wir am nächs­ten Tag wie­der schmerz­frei vor dem Com­pu­ter still­sit­zen kön­nen. Wer an sich selbst arbei­tet, kann mehr leis­ten! Und haben wir uns nicht selbst ver­wirk­licht? Das ist auch so ein Irr­tum aus den 1990ern. Mach’ dein Ding, gib’ dein Bes­tes, dann kannst du alles wer­den! Wenn der Erfolg indi­vi­dua­li­siert wird, gilt das natür­lich auch für den Miss­erfolg. Und dass du erschöpft bist, liegt an dir. Ich kenne etli­che Frauen, die sich auf Long Covid unter­su­chen haben las­sen, weil sie immer so müde sind, und weil es nicht sein kann, dass es das Sys­tem ist, das sie erschöpft.

Lasst uns bitte so faul wie nötig sein, in der Muße liegt die Kraft. Aber hören wir auf, uns durch lust­los absol­vier­tes Yoga und Acht­sam­keits­se­mi­nare fit für eine Arbeits­welt zu machen, die es wert ist, unter­zu­ge­hen. Ohne ein Mini­mum an Lei­den­schaft mag ich nicht mehr dahin­le­ben, und ich will, dass andere davon pro­fi­tie­ren (etwa in die­ser klei­nen Brand­rede gegen fiese Arbeits­be­din­gun­gen). Wir müs­sen die Auf­ga­ben, die uns das Leben stellt, viel gerech­ter ver­tei­len. Es ist nicht zu ertra­gen, dass sich in der soge­nann­ten „Drit­ten Welt“ schon die Kin­der krumm schuf­ten müs­sen, nur damit wir beim Hofer Gar­ten­mö­bel zu Schleu­der­prei­sen kau­fen, auf denen wir uns von den Zumu­tun­gen der eige­nen unge­lieb­ten Arbeit zu ent­span­nen ver­su­chen. Es wird eben alles ein biss­chen teu­rer, dafür weni­ger scheiße. Lohn muss mehr als ein Schmer­zens­geld dafür sein, dass wir unse­ren Kör­per 38,5 Stun­den ins Büro set­zen.

Wenn ich in Sachen Lebens­er­war­tung Kind mei­ner Eltern bin, habe ich jetzt noch maxi­mal 30 Jahre, und die mag ich nicht mehr ver­schwen­den. Denn das Leben ist schön und es macht viel Arbeit.

Von Dominika Meindl
(c) Dieter Decker
Kepler Salon
Kepler Salon Ausgabe 1/2022

Tanzen möchte ich!

Wie die Zeit ver­geht, ist ein oft geta­ner Aus­ruf der Ver­wun­de­rung über den Lauf der­sel­ben. Gerade ging ich noch in die Schule, trug mein frisch gebo­re­nes Kind im Arm und hatte deut­lich mehr Haare am Kopf, was den Rest nicht hin­dert, jeder Art von Zäh­mung die immer brei­ter wer­dende Stirn zu bie­ten. Meine Groß­el­tern sind Jahr­zehnte tot, wenn auch kein Tag ver­geht, an dem ich sie wie einige mehr ver­schwun­dene Men­schen im Sinn habe und ver­misse. „Es ist mein tie­fer Glaube, dass die Toten nicht tot sind, solange wir leben“, lese ich beim ver­ehr­ten Uni­ver­sal­den­ker Alex­an­der Kluge, der am Valen­tins­tag neun­zig Jahre alt gewor­den ist. Seit fast vier­zig Jah­ren spiele ich mit mei­nem über neun­zig Jahre alten Orga­nis­ten­freund. Im Alter von zwölf, drei­zehn Jah­ren habe ich die Sei­ten gewech­selt. Bis dahin galt ich als auf­stre­ben­der Minis­trant, dem künf­tige Füh­rungs­po­si­tio­nen zuge­traut wur­den. Es kam anders, der Orga­nist nahm den ange­hen­den Flö­ten­spie­ler unter sei­nen Fit­ti­chen auf die Orgel­em­pore mit. Ich habe nicht nur die Sei­ten, son­dern auch die Per­spek­tive gewech­selt. Noch heute fahre ich alle hei­li­gen Zei­ten, sie sind es mir wirk­lich, in mei­nen Hei­mat­ort, um mit ihm zu musi­zie­ren. Ich habe wenige so lei­den­schaft­li­che Musi­ker wie ihn ken­nen­ge­lernt. Er nimmt sein Ama­teur­sein ernst und liebt, was er tut.

Ich frage die Urgroß­mutter mei­ner Töch­ter, sie wird in drei Jah­ren hun­dert, was sie gerne tun würde: „Tan­zen möchte ich noch ein­mal!“, ant­wor­tet sie mir ohne Nach­den­ken mit ver­schmitz­tem Lächeln und ihre Augen leuch­ten wie die ihres jüngs­ten Uren­kel­kinds, das mehr als neun Jahr­zehnte nach ihr das Licht der Welt erblickte. Seit zwei Jah­ren befin­den wir uns schon im pan­de­mi­schen Aus­nah­me­zu­stand, der nicht und nicht ein Nor­mal­zu­stand wer­den will, an den wir uns, nicht nur auf­grund der häu­fig wech­seln­den Ver­ord­nun­gen, nicht gewöh­nen könn­ten. Erin­nern Sie sich noch, wie vor gut zwei Jah­ren die ers­ten Mel­dun­gen über eine Virus­er­kran­kung laut gewor­den sind? Viel­leicht glaub­ten Sie auch wie ich, China sei weit weg. Das mit­tel­eu­ro­päi­sche Ver­ständ­nis, weit­ge­hend ver­schont von Erschüt­te­run­gen aller Art zu sein, war ein unhin­ter­frag­tes Selbst­ver­ständ­nis. Und wir sind längst dabei, die­ses wei­ter­hin für uns in Anspruch zu neh­men. Erin­nern Sie sich an die lee­ren Stra­ßen, die Stille, die im ers­ten Lock­down über unse­ren Städ­ten lag? Mir ist erst vor kur­zem auf­ge­fal­len, dass ich einige mir sehr nahe Men­schen, die nicht ums Eck leben, seit über zwei Jah­ren nicht leib­haf­tig gese­hen habe. Der Schein der vir­tu­el­len Welt trügt mit­un­ter.

Alles recht und schön! Sie fra­gen sich viel­leicht, wo will er hin­aus? Ich kann Ihnen ver­si­chern, dass Sie mit die­ser Frage nicht allein sind. Wie geht es jetzt wei­ter? Was pas­siert, wenn sich der Nebel lich­tet, sich die Trü­bun­gen der Pan­de­mie am Boden abge­setzt haben und sedi­men­tie­ren? Wel­che Spu­ren wer­den wir vor­fin­den? Und dabei bleibt die Frage, ob die Pan­de­mie wirk­lich schon zu Ende geht? Was kommt im Herbst? Kommt nach der Pflicht die Kür, mit oder ohne Pflicht? Die Kür von was? „Was machst du gerade?“, frage ich meine fünf­jäh­rige Toch­ter bei einem Anruf. „Ich tele­fo­niere mit dir!“, reagiert sie ver­dutzt. Wenn Klug­heit ein Alter hat, ist sie mit Sicher­heit um vie­les älter als ich.

„Man kann dem Leben nicht mit aus­wen­dig Gelern­tem begeg­nen“, sagt der Volks­mund, aber mit Wach­heit für die Gegen­wart. Schon im Jahr 2019 waren laut Sta­tis­tik Aus­tria 1.472.000 Men­schen oder 16,9 Pro­zent der Bevöl­ke­rung in Öster­reich armuts-​ oder aus­gren­zungs­ge­fähr­det. Ein­kom­mens­ar­mut, erheb­li­che mate­ri­elle Ein­schrän­kun­gen oder geringe Erwerbs­ein­bin­dung sind nach der Defi­ni­tion des EU-​Sozialziels Merk­male die­ser Gruppe. Dass diese Gruppe in den letz­ten Jah­ren mit Sicher­heit nicht klei­ner gewor­den ist, braucht nicht erwähnt zu wer­den. Wie wich­tig der Zugang zu Bil­dung, zur Anstif­tung eines For­scher*innen­drangs ist, zeigt die Gegen­wart deut­lich. Wir leben in einem post­fak­ti­schen Zeit­al­ter, dem hof­fent­lich bald ein post­pan­de­mi­sches fol­gen wird, doch am nahen Hori­zont – zumin­dest glau­ben wir uns noch in der Distanz – war­ten schon die nächs­ten Her­aus­for­de­run­gen wie die Kli­ma­krise auf uns. Was hier in ein paar Sät­zen hin­ge­schrie­ben steht, sind kon­krete Pro­bleme, die für viele von uns die der ande­ren sind. Vor lau­ter Bäu­men sehen wir den Wald nicht, den wir ohne­hin nicht erbli­cken wol­len.

„Das wird ein Nach­spiel haben!“, hört man oft als Dro­hung, wenn etwas schief­ge­lau­fen ist. Bemer­kens­wert finde ich, dass es gerade dann zu einem Spiel kom­men soll, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Die Erfah­rung zeigt, dass die Spiel­plätze aller Arten im Ernst­fall ver­sperrt wer­den. Viel­leicht liegt darin unsere Chance, die Plätze des Spiels, der Fan­ta­sie, des Sin­gens, Tan­zens, Stau­nens erns­ter zu neh­men. „Jeder ist jemand!“, wie es George Tabori auf den Punkt gebracht hat, ist dabei eine wich­tige Erin­ne­rung. Wer staunt, liegt nie­mals falsch, denn es gibt kein fal­sches Stau­nen im rich­ti­gen Leben. „Es würde den Geset­zen gut­tun, wenn sie gesun­gen wer­den könn­ten“, darf ich mich ein­mal mehr auf Alex­an­der Kluge beru­fen.

Ob sin­gend oder ein­fach mit­ein­an­der ins Gespräch kom­mend, wol­len wir uns auch im Früh­jahr im Kep­ler Salon vie­len Fra­gen stel­len. Das Spiel liegt mir nahe, daher lade ich Sie zu einem Spie­le­abend (4. April) in den Zir­kus des Wis­sens ein. Die Zusam­men­ar­beit mit die­sem zau­ber­haf­ten Spiel­ort der Johan­nes Kep­ler Uni­ver­si­tät Linz und sei­nem Zir­kus­di­rek­tor Airan Berg wol­len wir immer wie­der inten­siv leben. „Likest du noch oder lebst du schon?“, fragt die Digital-​Detox-Coachin Chris­tina Fei­rer (11. April) und erklärt mit Know-​how, Empa­thie und Witz, warum Apps in unse­rem Hirn das Beloh­nungs­zen­trum akti­vie­ren, wel­che Urinstinkte Likes in uns wecken, und zeigt, wie das Dau­er­feuer an Nach­rich­ten und Infor­ma­tio­nen auf uns wirkt. „Wag­ners Dun­kel­kam­mer“ hat sich zu einem unge­heuer wich­ti­gen und wirk­sa­men For­mat in unse­rem Pro­gramm ent­wi­ckelt. Karin Wag­ner bringt gemein­sam mit Gäs­ten Licht in Ver­ges­se­nes und Ver­dräng­tes. Am 25. April rückt Jür­gen Pet­tin­ger das Schick­sal von Franz Doms in den Blick­punkt und the­ma­ti­siert, was es bedeu­tet hat, „Schwul unterm Haken­kreuz“ gewe­sen zu sein. Mit der Kultur-​ und Sozi­al­an­thro­po­lo­gin Bet­tina Lud­wig sind wir unse­rer Zukunft auf der Spur (2. Mai): Sie nimmt uns mit zu Jäger-​Sammler*innen-​Gesellschaften, in denen Zeit, Besitz und Hier­ar­chien anders funk­tio­nie­ren, als wir es gewohnt sind. Aus dem Blick zurück ent­wi­ckelt Lud­wig eine Vision für eine Gemein­schaft, in der Diver­si­tät der Nor­mal­fall ist, und bricht damit eine Lanze für Opti­mis­mus und eine gute Por­tion Rea­lis­mus. Der Lin­zer Kura­tor und Buch­de­si­gner Gott­fried Hat­tin­ger führt mit sei­nem „Maschi­nen­buch“ (16. Mai) in ein Reich der mecha­ni­schen Fan­ta­sie, das zeigt, dass die­ses nicht nur von Künst­lern und Inge­nieu­ren bevöl­kert wird, son­dern am Rande auch von Göt­tern, Teu­feln, Dich­tern und Phi­lo­so­phen, Uto­pis­ten, Schar­la­ta­nen, Betrü­gern, Kur­pfu­schern und Fan­tas­ten. Nicht zufäl­lig erscheint das Buch anläss­lich der Aus­stel­lung „Welt­ma­schine“, die im Offe­nen Kul­tur­haus bis 15. Mai zu sehen ist, zum 450. Geburts­tag von Johan­nes Kep­ler. In der Per­sön­lich­keit Kep­lers ver­ei­nen sich neben mathe­ma­ti­schem Genius Ima­gi­na­ti­ons­kraft, Expe­ri­men­tier­lust und visio­nä­res Den­ken, das auch lite­ra­ri­sche Uto­pie nicht aus­schließt. Unse­ren Namens­stif­ter bringt uns auch Erich Meyer „ganz pri­vat“ (13. Juni) näher. Die­ser Abend ist der Auf­takt zu einer drei­tei­li­gen Reihe zu Johan­nes Kep­ler, die uns noch das ganze Jahr beglei­ten wird. Begeg­nen Sie im Kom­men­den noch Eli­sa­beth Schweeger, Chris­tine Hai­den, Kurt Kotrschal und vie­len ande­ren mehr. Wir blei­ben dran an vie­len Fra­gen und dabei vor allem an uns!

Von Norbert Trawöger
Kepler Salon Ausgabe 1/2022

Wider­stand wider Willen

Ab 18 Uhr fin­den neun­zehn Hin­rich­tun­gen statt“, notiert Mon­si­gnore Edu­ard Köck am Mor­gen des 7. Februar 1944 hand­schrift­lich in sei­nem Dienst­ta­ge­buch. Er lis­tet die Namen jedes ein­zel­nen Tod­ge­weih­ten auf, die jewei­lige Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit, die Gründe, warum sie hin­ge­rich­tet wer­den sol­len, und sogar die geplante Rei­hen­folge. An die­sem Mon­tag sind es sechs Sol­da­ten wegen Fah­nen­flucht, sie­ben Män­ner wegen Wehr­kraft­zer­set­zung, drei, weil sie einer kom­mu­nis­ti­schen Wider­stands­gruppe ange­hört hat­ten, zwei wegen Mor­des und einer – mit gerade ein­mal 21 Jah­ren der Jüngste an die­sem Tag – wegen „Unzucht wider die Natur mit Per­so­nen des­sel­ben Geschlechts“. Franz Doms, so heißt der schwule junge Mann, sollte als Fünf­zehn­ter an die­sem Abend an der Reihe sein. Trotz sei­nes jugend­li­chen Alters hat er schon mehr Haft­er­fah­rung als alle ande­ren, die am Abend mit ihm zum Scha­fott geführt wer­den sol­len. Die letz­ten vier Jahre sei­nes Lebens hat er fast aus­schließ­lich in Ker­ker­zel­len oder Unter­su­chungs­haft­an­stal­ten ver­bracht. Als sieb­zehn­jäh­ri­ger Bur­sche wurde er zum ers­ten Mal ver­haf­tet. Nach­barn hat­ten ihn ange­zeigt. „Der Hit­ler kann hun­dert Jahre alt wer­den, wenn er glaubt, er bringt mich zum Arbeits­dienst“, soll er im Streit zu sei­ner Schwes­ter gesagt haben. Füh­rer­be­lei­di­gung konnte ihm zwar nicht nach­ge­wie­sen wer­den, aber in der Aus­ein­an­der­set­zung soll auch das Wort „War­mer“ gefal­len sein – drei Monate Haft für den Jugend­li­chen. Die Kri­mi­nal­po­li­zei hatte es vor allem aber dar­auf abge­se­hen, andere Namen aus ihm her­aus­zu­be­kom­men. Franz Doms erwies sich dies­be­züg­lich aller­dings als har­ter Kno­chen. Nicht ein­mal Schläge, Schlaf-​ und Nah­rungs­ent­zug oder Water­boar­ding führ­ten zum Erfolg. Ein beson­ders dienst­be­flis­se­ner Beam­ter orga­ni­sierte eines Tages sogar Lokal­au­gen­scheine. Obwohl aus Kriegs­grün­den bereits mög­lichst kein Ben­zin mehr ver­braucht wer­den sollte, wurde Franz Doms durch ganz Wien kut­schiert, um wenigs­tens zu zei­gen, wo er sich mit den Män­nern getrof­fen hatte. Auch das aller­dings nichts mehr als Sprit­ver­schwen­dung. So lebte in einer von Franz Doms ein­deu­tig iden­ti­fi­zier­ten Villa in Rodaun schon lange nur mehr eine allein­ste­hende Witwe, keine Spur von einem Homo­se­xu­el­len. Eine von Franz Doms „mit aller­größ­ter Sicher­heit“ wie­der­erkannte Zins­woh­nung im drit­ten Bezirk in Wien war schon seit Jah­ren ver­sie­gelt, in ihr hatte ein Jude gelebt, dem die Flucht gelun­gen war. In den Ermitt­lungs­pro­to­kol­len trieft der Frust der Beam­ten über den jun­gen Schwu­len, der nicht zu kna­cken war, regel­recht her­aus.

Nach drei Frei­heits­stra­fen, dar­un­ter ein Jahr schwe­rer Ker­ker, attes­tierte ein Staats­an­walt Franz Doms schließ­lich, dass von einer wei­te­ren Frei­heits­strafe keine Bes­se­rung mehr zu erwar­ten sei. Erst jetzt, um sein Leben zu ret­ten, gab er ein paar Namen bekannt. Alle­samt von Kon­tak­ten, für die er ohne­hin schon ein­mal ver­ur­teilt wor­den war. Trotz­dem wurde der damals 20-​Jährige „als gefähr­li­cher Gewohn­heits­ver­bre­cher wegen Unzucht wider die Natur“ zum Tode ver­ur­teilt. In einem Beschwer­de­brief schreibt er wenig spä­ter, schon in der Todes­zelle sit­zend, dass man für ein und die­selbe Tat nicht zwei­mal bestraft wer­den könne. Sämt­li­che Gna­den­ge­su­che wur­den den­noch abge­lehnt.

Seine letz­ten Stun­den ver­bringt Franz Doms gemein­sam mit dem 30-​jährigen Ste­fan Ram­bausch und dem 49-​jährigen Leo­pold Hadaček in einer soge­nann­ten „Arme­sün­der­zelle“, wo die Tod­ge­weih­ten noch Papier und Stift erhal­ten, um einen Abschieds­brief zu schrei­ben, und der Pfar­rer ihnen letz­ten Bei­stand leis­tet. Im Dienst­ta­ge­buch von Mon­si­gnore Köck ist ver­zeich­net, dass Franz Doms die Ster­be­sa­kra­mente erhal­ten habe und die bei­den ande­ren als Athe­is­ten um die Abso­lu­tion gebe­ten und bekom­men haben. Am Abend wird dann einer nach dem ande­ren abge­holt. Alle paar Minu­ten hallt ab 18 Uhr das dumpfe „Wumms“ des her­ab­fal­len­den Fall­beils durch die Gänge und Stie­gen­häu­ser des Wie­ner Lan­des­ge­richts. Um 18 Uhr 42 ist Ste­fan Ram­bausch an der Reihe. Er war Hilfs­ar­bei­ter bei den Hermann-​Göring-Werken in Linz und hatte sei­nen Kol­le­gen immer wie­der pro­phe­zeit, dass der Krieg für Deutsch­land bald ver­lo­ren sein und die Ver­ant­wort­li­chen dann an die Wand gestellt wer­den wür­den. Laut Gerichts­ur­teil „nicht nur ein gele­gent­li­cher Mecke­rer, son­dern ein sys­te­ma­ti­scher Het­zer“. Leo­pold Hadaček war Maschi­nen­ar­bei­ter in Nie­der­ös­ter­reich und über­zeug­ter Kom­mu­nist. Er musste um 18 Uhr und 44 Minu­ten ster­ben, weil er eine Wider­stands­gruppe gegrün­det, Kame­ra­den ange­wor­ben, Schu­lungs­tref­fen orga­ni­siert und Geld gesam­melt hatte. Als Letz­ter wird Franz Doms um 18 Uhr und 46 Minu­ten aus der Arme­sün­der­zelle geholt und getö­tet. Nur eine Stunde dau­ert es, bis alle neun­zehn Men­schen tot sind. Pfar­rer Edu­ard Köck schreibt: „19 Uhr: Ein­seg­nung der Hin­ge­rich­te­ten.“

Der Hin­rich­tungs­raum im Wie­ner Lan­des­ge­richt exis­tiert noch heute. Dort, wo das Fall­beil gestan­den ist, ist im Boden ein gro­ßer Abfluss für das Blut der Ermor­de­ten ein­ge­las­sen. Auch die ori­gi­nale Ver­flie­sung und der Was­ser­hahn, wo der Schlauch zum Aus­sprit­zen nach jeder Hin­rich­tung ange­schlos­sen war, ist noch da. Heute wird in dem gespens­ti­schen Raum der vie­len Opfer der NS-​Justiz gedacht. „Nie­mals ver­ges­sen – seid wach­sam!“, steht auf einer gro­ßen Mes­sing­ta­fel. Wie im Dienst­ta­ge­buch des Ober­pfar­rers Edu­ard Köck vor 78 Jah­ren mit kra­ke­li­ger Hand­schrift sind die Namen jetzt in gol­de­nen Let­tern auf­ge­lis­tet. Dar­un­ter Ste­fan Ram­bausch oder Leo­pold Hadaček. Der Name Franz Doms fehlt bis heute. Er und die bei­den Mör­der sind die Ein­zi­gen aus der Liste der neun­zehn Todes­kan­di­da­ten vom 7. Februar 1944, an die nicht erin­nert wird. Homo­se­xua­li­tät war genau wie Mord sowohl vor als auch nach dem NS-​Terror straf­bar, die jewei­li­gen Gesetze waren keine Erfin­dung der Nazis und die Urteile – so der Gedanke – daher kein Unrecht im eigent­li­chen Sinn.

Schwule Män­ner, die über­lebt haben, wur­den 1945 nicht etwa viel­fach befreit, son­dern ein­fach von den Ver­nich­tungs­la­gern direkt wie­der in Gefäng­nisse über­stellt, um dort ihre Rest­stra­fen abzu­sit­zen. Nazi-​Urteile hin oder her, Schwul­sein war ein Ver­bre­chen.

In der Zwei­ten Repu­blik wurde nicht nur der § 129, „Unzucht wider die Natur“, unver­än­dert über­nom­men, es wurde auch die Ver­fol­gungs­pra­xis der Nazis ein­fach fort­ge­setzt, obwohl es die davor gar nicht in der Form gege­ben hatte. Galt vor den Nazis viel­fach der Grund­satz „Wo kein Klä­ger, da kein Rich­ter“, wurde ab 1938 aktiv ver­folgt, spio­niert und aus­ge­forscht. Da es dank der Nazis die nöti­gen Struk­tu­ren dafür schon gab, wur­den die auch nach 1945 wei­ter genutzt. – Hätte Franz Doms über­lebt, wäre er sehr wahr­schein­lich noch mehr­fach von den­sel­ben Poli­zei­be­am­ten ver­haf­tet und den­sel­ben Staats­an­wäl­ten und Rich­tern ver­ur­teilt wor­den. Wie viele Tau­sende andere Män­ner auch.

Erst im Jahr 1971 wurde das Total­ver­bot von Homo­se­xua­li­tät unter Bruno Krei­sky und Jus­tiz­mi­nis­ter Chris­tian Broda auf­ge­ho­ben. Franz Doms wäre 50 Jahre alt gewe­sen. 83 Jahre alt hätte er wer­den müs­sen, um 2005 offi­zi­ell als NS-​Opfer aner­kannt zu wer­den. Die erste offi­zi­elle Ent­schul­di­gung eines Regie­rungs­mit­glie­des durch Jus­tiz­mi­nis­te­rin Alma Zadić für die Ver­fol­gung Homo­se­xu­el­ler in der Zwei­ten Repu­blik hätte er letz­tes Jahr als 99-​Jähriger wohl nicht mehr erlebt.

Die Namen von Franz Doms und vie­len ande­ren schwu­len, les­bi­schen, bise­xu­el­len oder tran­si­den­ten Men­schen müs­sen end­lich aus dem Ver­ges­sen geholt wer­den. Queere Men­schen ent­schei­den sich nicht für Wider­stand, den­noch betrei­ben sie ihn aktiv. Franz Doms ist ein Vor­bild, ein Held. Ehre ALLEN Opfern!

Von Jürgen Pettinger
Kepler Salon
Eine Szene aus dem Kepler Salon.
Kepler Salon Ausgabe 4/2021

Ich habe genug

Keine Negie­rungs­er­klä­rung von NOR­BERT TRA­WÖ­GER.

Kepler Salon Ausgabe 4/2021

Selbst­be­stimmt fremd­be­stimmt

Noch nie galt dem Men­schen seine Auto­no­mie so viel wie zu unse­rer Zeit. Wer kann, hält sich mit Ver­bind­lich­keit zurück. Eine Ver­ab­re­dung zum Fami­li­en­tref­fen zum Wochen­ende? Hängt davon ab, wie das Wet­ter wird. Könnte sein, dass ein Mountainbike-​ Trail dann attrak­ti­ver ist als Kaf­fee und Kuchen mit den Bluts­ver­wand­ten. Eine Abend­ver­an­stal­tung im beruf­li­chen Kon­text? Anmel­dung ja, aber wenn mir kurz­fris­tig was ande­res wich­tig ist, muss ich mich doch nicht hin­quä­len. Pech für den Ver­an­stal­ter. Die Selbst­be­stim­mung wird zum klei­nen Haus­al­tar. Auf dem man sich in der Regel selbst beweih­räu­chert. Das ver­schiebt gesell­schaft­lich einige bis­her gül­tige Gren­zen.

Bana­les Bei­spiel: Durch die Pan­de­mie mit ihren Haus­ar­res­ten ver­stärkte sich der Wunsch, ins Grüne zu wech­seln. An sich kein Pro­blem, wären da nicht einige beson­dere Ver­hal­tens­wei­sen. Ein Jäger ent­deckte auf der Suche nach sei­nem Reh­wild biwa­kie­rende Zeit­ge­nos­sen im Wald. Die Tiere hat­ten ange­sichts der Ein­dring­linge das Weite gesucht. Diese suchen das Beson­dere, selbst­ver­ständ­lich für sich selbst. Ersucht die Wald­auf­sicht Wan­de­rer, Rad­fah­rer oder Wald­ba­der, auf den aus­ge­wie­se­nen Wegen und Flä­chen zu blei­ben, sind sie vor tät­li­chen Über­grif­fen nicht mehr sicher. Was man als All­ge­mein­gut sieht, defi­niert das Indi­vi­duum. Solange es sich um den Besitz der ande­ren han­delt, ver­steht sich. Der inva­sive Zugang in die Sphä­ren ande­rer erspart sich die Mühe des Aus­han­delns, Abglei­chens, Ver­ein­ba­rens. „Das steht mir zu“, wiegt schwe­rer. Die Frage, woher sich diese Gewiss­heit ablei­tet, kennt nur den kur­zen Weg zu sich zurück. „Weil es meine Frei­heit ist.“ Mag sein, dass wir im Pen­del­schlag der mensch­li­chen Ent­wick­lungs­ge­schichte gerade an jenem Pol sind, der den über Jahr­hun­derte gepfleg­ten Unter­ord­nun­gen des Ein­zel­nen unter das Gemein­same gegen­über­liegt. Wir haben gelernt, „ich“ zu sagen, und das machen wir gera­dezu blind­wü­tig.

Schon vor Jah­ren ortete die Sozial wis­sen­schaft­le­rin Mari­anne Gro­ne­meyer eine „ange­strengte Dies­sei­tig­keit“. Die Men­schen, so ihre These, hät­ten nach Auf­gabe des Trans zen­den­ten, nach dem Ende der Hoff­nung auf ein – mög­li­cher­weise sogar bes­se­res – Wei­ter­le­ben nach dem Tod, das Leben als letzte Gele­gen­heit begrif­fen. Was immer mög­lich sei, müsse man her­aus­ho­len, denn nichts kommt wie­der. So sei der Drang, manch­mal sogar der Zwang ent­stan­den, in die lächer­lich kur­zen Lebens­jahre alles zu packen, was es zu erle­ben gäbe. Gepaart mit dem Wunsch, sich von ande­ren zu unter­schei­den, zieht es Legio­nen von Indi­vi­dua­lis­ten zur Welt­reise mit Kin­dern oder auch bloß ins nächste Tattoo-​Studio. Wer etwas Beson­de­res erlebt oder auch nur hofft, es zu sein, braucht eine Bühne und braucht Publi­kum. Ohne das Echo, ohne Bei­fall, ohne Bewun­de­rung ist die Mühe der Unter­schei­dung mehr Plage als Lust­ge­winn. Welch ein Glück, dass in den ver­gan­ge­nen Jah­ren Social Media diese Bedürf­nisse schnell, ein­fach und quasi gra­tis befrie­digt. A sel­fie a day keeps depres­sion away. So weit, so bekannt. Doch an die­sem Punkt scheint sich die Geschichte nun zu dre­hen. Aus der ver­meint­li­chen Selbst­be­stim­mung wird de facto eine Fremd­be­stim­mung. Der Algo­rith­mus ist stär­ker als jedes Ich, er zwingt es in die Knie der Anbe­tung. Mit Likes und Kom­men­ta­ren wird gelenkt, was frei begon­nen hat. Auch das wäre noch kein Pro­blem, bliebe es eine pri­vate Nar­re­tei. Längst hat der Wunsch nach unein­ge­schränk­ter Indi­vi­dua­li­tät aber das Niveau einer kol­lek­ti­ven Täu­schung erreicht. In den Echo­kam­mern der Smart-​Phone- Wel­ten ent­ste­hen neue Glau­bens­ge­mein­schaf­ten. Sie zeich­nen sich dadurch aus, dass sie dem Ein­zel­nen Selbst­be­stim­mung sug­ge­rie­ren, längst aber zur Fremd­be­stim­mung gewor­den sind. Das ist gerade dort nichts ohne die ande­ren. Wem es gelingt, in der Welt der Kurz­nach­rich­ten und Video­trai­ler genü­gend Fol­lower an sich zu bin­den, der macht die bes­ten Geschäfte. Die Bot­schaf­ten müs­sen gefäl­lig genug, glaub­wür­dig nahe am Bauch­ge­fühl und auf­re­gend ein­fach sein. Es hat etwas von den Metho­den der längst in der Rum­pel­kam­mer der Geschichte depo­nier­ten Kir­chen. Ein­präg­same Bil­der, kurze Sprü­che, hero­en­hafte Pre­di­ger, eine anspre­chende Lit­ur­gie – das Hoch­amt der Fremd­be­stim­mung hat sich ein neues Gewand gesucht. Auch das wäre als kurio­ses Unter­hal­tungs­pro­gramm nicht wei­ter stö­rend. Doch die fremd­ge­steu­erte Selbst­be­stim­mung unse­rer Tage ist in ihrer sub­ti­len Form nicht zuletzt eine Gefähr­dung der Demo­kra­tie. Diese braucht infor­mierte Zeit­ge­nos­sen und sol­che, die im oft mühe­vol­len Abgleich von Inter­es­sen das Eigene und das Gemein­same ver­han­deln. Um das zu kön­nen, braucht es auch gemein­same Foren. Es braucht die Fähig­keit, nicht nur den eige­nen Gefüh­len oder Ver­mu­tun­gen zu fol­gen, son­dern sich auf einer Fak­ten­lage zu ver­stän­di­gen. Die Psych­ia­te­rin Adel­heid Kast­ner pro­vo­ziert die­ser Tage mit ihrem Buch über „Dumm­heit“. Auch wenn der Begriff nicht ein­deu­tig zu defi­nie­ren sei, könne man sagen, dass dumm ist, wer sich wider bes­sere Mög­lich­kei­ten nicht sei­nes Gehirns bediene. Das suche, so man es lasse, nach plau­si­blen Fak­ten und hielte sich nicht bei vor­läu­fi­gen Gefüh­len auf.

„Glaubst du an Corona?“, wurde ich vor kur­zem gefragt. Ich war per­plex und im Moment unfä­hig, eine adäquate Ant­wort zu geben. Kann man an Viren glau­ben oder nicht? Ist es ein Zei­chen von Selbst­be­stim­mung, die Erkennt­nisse der Wis­sen­schaft abzu­leh­nen und sich an Son­der­pre­di­gern zu ori­en­tie­ren? Wäh­rend mehr­fach über­prüfte wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nisse meist kol­la­bo­ra­tiv ent­ste­hen und daher auch nicht die Wis­sen­schaft­ler an sich in den Vor­der­grund stel­len, hal­ten sich die Glau­ben­den an ein­zelne Per­so­nen. An deren Glaub­wür­dig­keit machen sie ihre eige­nen Ent­schei­dun­gen fest. Was selbst­be­stimmt wirkt, ist ängst­li­ches Klam­mern. Auf das Gesamte eines Gemein­we­sens gese­hen, birgt das die Gefahr, wie­der Füh­rer und cha­ris­ma­ti­sche Mani­pu­la­to­ren an die Spitze zu brin­gen. Wer sei­nen Anhän­gern das Gefühl ver­mit­teln kann, tat­säch­lich anders als die ande­ren zu sein, vor allem aber klü­ger, bes­ser, schlauer, schöpft die Likes ab.

Fremd­be­stim­mung, die de facto Unter­wer­fung ist, unter­schei­det sich von jener, die sich not­wen­di­ger­weise aus dem Zusam­men­le­ben mit ande­ren ergibt. Sie ist eine soziale Tole­ranz, die erlernt wer­den kann. Wer aner­kennt, dass wir, weil wir Indi­vi­duen sind, unter­schied­li­che Inter­es­sen haben, und zwar gleich­wer­tig, schafft die Basis für die nächs­ten Schritte. Ent­ge­gen der Vor­stel­lung einer selbst­be­zo­ge­nen Auto­no­mie ent­steht Respekt für­ein­an­der nur, wo jeder auch von sich abse­hen kann. Zuhö­ren ist eine der Qua­li­tä­ten, die sich so aus­bil­den. Aus ihr folgt, dass der Geist beweg­lich wird, dass die Gefühle flie­ßend wer­den, das Wahr­neh­men einen grö­ße­ren Hori­zont als den eige­nen erschließt. Das Abtre­ten ego­is­ti­scher Inter­es­sen und Vor­teile im Inter­esse eines gemein­sa­men guten Lebens wirkt dann wie eine Ein­wil­li­gung in Fremd­be­stim­mung. Para­do­xer­weise ist aber gerade das ein Höchst­maß an Selbst­be­stim­mung. Der eigene Vor­teil kann wach­sen, wenn es auch der aller ande­ren tut. Im klas­si­schen Wirt­schafts­jar­gon heißt das „Win-​win-Situation“. Aber muss es immer Gewin­nen sein? Die Öko­no­mi­sie­rung aller Lebens­be­rei­che, ein­schließ­lich der pri­va­ten Lebens­füh­rung, hat ver­mut­lich den Blick dar­auf ver­stellt, dass wir in ers­ter Linie end­li­che und dadurch auch extrem ver­letz­li­che Lebe­we­sen sind. Erst in der Balance von Selbst­be­stim­mung und Fremd­be­stim­mung wird das erträg­lich. Wer das kleine Ego als Maß aller Dinge akzep­tiert, muss auch daran schei­tern.  

Von Christine Haiden
Die Aussicht von einem Fenster.
Ein Bild von Zoe Goldstein.
Kepler Salon Ausgabe 3/2021

Konzen­triere Dich!

Inmit­ten die­ser Som­mer­tage fällt es mir gar nicht leicht, mich auf ein Thema für die­sen Text zu fokus­sie­ren. Meh­rere The­men brin­gen sich ins Spiel, die ich im nächs­ten Moment als irrele­vant oder wenig trag­fä­hig ver­werfe. Wenn es nichts zu sagen gibt, soll es doch ein Leich­tes sein, sich dem Schwei­gen hin­zu­ge­ben, denke ich mir. Wie sehr wün­sche ich mir tag­täg­lich, dass die vie­len selbst­er­mäch­tig­ten Exper­tin­nen und Exper­ten still­hal­ten, die von der Wohn­zim­mer­couch aus nicht nur Fuß­ball­teams trai­nie­ren, son­dern ein Impf­ex­pert*innen­tum an den Tag legen, das mit vie­len Mei­nun­gen und noch mehr Ver­schwö­rungs­theo­rien gewa­schen ist. Der Unter­schied zwi­schen Mei­nung und Wis­sen ist so wenig bekannt wie der zwi­schen Klima und Wet­ter, glaube ich. Es geht aber nicht um Glau­ben, son­dern um Wis­sen. Das Blatt ist leer, die Gestal­tung von unse­rem geschätz­ten Gra­fi­ker Erwin Franz längst in Form gebracht, die nur mehr mit Inhalt gefüllt wer­den will. Der Druck eines Redak­ti­ons­schlus­ses wirkt meist beru­hi­gend auf mich, da ich weiß, bis dahin ist es geschafft, da es danach zu spät wäre. Leere Sei­ten brau­chen nicht gedruckt zu wer­den. Man braucht die­ser Logik nur zu fol­gen, dann kann Druck zum Sog wer­den, wenn man sich hin­setzt und zu schrei­ben beginnt. Der Kom­po­nist Bal­duin Sul­zer sagte: „Wenn eine Muse kommt, ver­jage ich sie sofort. Sie hält mich nur vom Arbei­ten ab.“ Die ein­zig sinn­volle Inspi­ra­tion sei ein Auf­füh­rungs­ter­min. Musi­ke­rin­nen und Musi­ker, die seine Stü­cke urauf­ge­führt haben, wis­sen, wovon ich schreibe. Die Tinte war oft noch nicht tro­cken und die Zeit zum Üben knapp. „Kon­zen­triere dich end­lich auf eine Sache!“, ist eine Ansage, die ich in jun­gen Jah­ren zu hören bekam. Ich wusste aber schon damals, dass ich am auf­merk­sams­ten bin, wenn meh­rere Dinge syn­chron lau­fen. Die ein­zige Vor­aus­set­zung ist, dass die Dinge mich inter­es­sie­ren, etwas ange­hen. Jede, jeder ist anders ver­an­lagt, da muss man (meist) selbst drauf­kom­men, auch wenn es bis heute nicht nor­mal scheint, ein viel­fäl­ti­ges beruf­li­ches Dasein zu leben, ohne der Ober­fläch­lich­keit ver­däch­tigt zu wer­den. „Ich kon­zen­triere mich auf alles!“, hat Heinz Hol­li­ger – ange­spro­chen auf seine Viel­kön­ner­schaft – reagiert. Der 82-​jährige Musi­k­uni­ver­sa­list ist als Obo­ist, Kom­po­nist, Diri­gent, Pia­nist oder als Leh­rer auf der gan­zen Welt höchst wirk­sam zu erle­ben. Frei­lich kreist er in einem vor allem klin­gen­den Kos­mos (meine eigene Grund­ver­an­la­gung in die­sem Feld kann ich auch in die­sem Text nicht ver­schwei­gen), aber die Meis­ter­schaft, die er in so vie­len klin­gen­den Aggre­gat­zu­stän­den hör­bar macht, ist von genia­li­scher Ein­zig­ar­tig­keit. Warum mich die­ser Satz berührt, ist, weil er die Kon­zen­tra­tion in den Mit­tel­punkt rückt, eine Fähig­keit, die er mit sei­nen vie­len ent­wi­ckel­ten Talen­ten offen­sicht­lich auf alles, was ihn angeht, anzu­wen­den ver­mag. Kon­zen­tra­tion ist eine wil­lent­li­che Fokus­sie­rung auf Bestimm­tes, um eine Auf­gabe zu lösen, um etwas zu errei­chen. Zumin­dest die Erwach­se­nen brau­chen offen­sicht­lich immer einen Nut­zen. Wenn wir Kin­der beim Spie­len beob­ach­ten, ver­fol­gen diese nicht unbe­dingt einen. „Was habt ihr heute im Kin­der­gar­ten gemacht?“, fragte ich ver­gan­ge­nen Tages meine Toch­ter. „Gespielt haben wir!“, ant­wor­tete sie mit ver­wun­der­ter Selbst­ver­ständ­lich­keit. „Was habt ihr gespielt?“, fragte ich wei­ter. „Ein­fach gespielt!“, sagte sie. Da hat sie mich Erwach­se­nen ertappt, sofort nach dem Nut­zen und Zweck zu fra­gen. Kin­der nen­nen die Dinge beim Namen, nicht beim Nut­zen. Wer spielt, spielt ein­fach. Mehr geht nicht, mehr braucht es nicht. Kin­der haben das Ver­mö­gen, sich erfül­len, von den Mög­lich­kei­ten anspre­chen zu las­sen, ohne per se ein Ziel vor Augen zu haben oder auf eine Lösung abzie­len zu müs­sen. Es ist ein unge­heuer wert­vol­les, mensch­li­ches Grund­ver­mö­gen, das in jeder, in jedem von uns ange­legt ist. Es heißt, den Schwer­punkt in sich zu fin­den. Immer öfter beob­achte ich Erwach­sene, die ihren Klein­kin­dern ihre Smart­pho­nes unter die Nase hal­ten. Mir brennt dabei das Herz, weil damit die mensch­li­che Sou­ve­rä­ni­tät, sich mit sich selbst zu beschäf­ti­gen, aufs Spiel gesetzt wird. Zwei­jäh­rige sit­zen auf ihren Hoch­stüh­len und star­ren wie betäubt auf die klei­nen Bild­schirme. Ihre Eltern haben ihnen die­ses Nar­ko­ti­kum ver­ab­reicht, um in Ruhe gelas­sen zu wer­den. Ich weiß von mei­nen eige­nen Töch­tern, wie ange­zo­gen sie von die­sen Gerät­schaf­ten sind und mit wel­cher leicht­hän­di­gen Selbst­ver­ständ­lich­keit sie damit umge­hen. Doch letzt­lich ist dies in die­ser Absicht eine Frei­heits­be­rau­bung, die sie um die Mög­lich­keit des Spie­lens bringt. Der Spiel­raum ist jener Ort, in dem wir die Welt erfah­ren, wo Fan­ta­sie sich zu ent­fal­ten beginnt, wo das Stau­nen zu Hause ist. Es ist der Ort, wo man Lan­ge­weile aus­zu­hal­ten beginnt, um in Eigen­be­we­gung zu gera­ten. Wir müs­sen diese Räume für uns Men­schen unter Natur­schutz stel­len, denn dort erfah­ren wir, dass die Mög­lich­kei­ten in uns lie­gen, die wir spä­ter im „Ernst­fall“ ein­mal brau­chen, um Her­aus­for­de­run­gen und ande­ren Pro­blem­stel­lun­gen begeg­nen zu kön­nen. Der Ernst des Lebens – wenn es ihn denn wirk­lich gibt – beginnt nicht erst mit dem Ein­tritt in die Schule, son­dern mit der Geburt. Der Ernst der Kin­der beim Spie­len ist ein erns­ter, der nicht genug ernst zu neh­men ist. Die­ser Ernst zielt nicht in ers­ter Linie auf Unter­hal­tung ab. Spie­len heißt, die Welt und ihre Mög­lich­kei­ten zu erobern. Da geht es nicht um ein Warum, nicht um ein Was oder Wie. Zu fra­gen, was habt ihr heute gespielt, ist, wie danach zu fra­gen, was hast du heute geat­met? Spie­len gehört zur Grund­ein­stel­lung des Men­schen. Wir kom­men alle spiel­be­reit auf die Welt, erobern uns diese spie­le­risch, indem wir Dinge mit den noch zu kur­zen Armen in Bewe­gung set­zen. Etwas spä­ter zie­hen wir uns den Stuhl heran, meist nicht, um auf die heiße Herd­platte zu grei­fen. Wir öff­nen Küchen­käs­ten, zie­hen die Töpfe her­aus, bauen Bur­gen im Sand, spie­len Ver­kau­fen mit ima­gi­nä­ren und rea­len Freun­din­nen und Freun­den oder lesen laut Bücher vor, obwohl wir noch lange gar nicht lesen kön­nen. Fürs Erzäh­len eige­ner Geschich­ten reicht das beob­ach­tete Ritual, in einem Buch zu blät­tern. Spie­len ist keine Frage des Kön­nens, son­dern des Tuns. Es ist Zustand, Tätig­keit und eine Art von Ener­gie. In die­sem Ener­gie­feld ist man ganz bei und mit sich, ist von sich und den Mög­lich­kei­ten und Unmög­lich­kei­ten erfüllt, die man in sich hat, um dann die zu ergrei­fen, die einen umge­ben. Wobei diese alles andere als offen­sicht­lich oder sicht­bar sein müs­sen. Sich mit etwas zu beschäf­ti­gen, sich von etwas erfül­len zu las­sen. Das kann alles sein. Das ist der Ernst des Lebens, der uns ange­bo­ren ist. Mit der Zur­ver­fü­gung­stel­lung eines klei­nen Bild­schirms wird der innere Schwer­punkt ins Außen gelenkt. Es ist eine Ablen­kung, die noch dazu ohne eige­nes Zutun unter­hält. Es ist eine sehr teure Unter­hal­tung, die wir uns da leis­ten, denn sie geht auf Kos­ten eines grund­le­gen­den Ver­mö­gens unse­rer Kin­der. Die Fähig­keit, mit sich zu sein und vie­les in sich zu fin­den, um mit der Welt in Dia­log zu gehen. Es ist unfass­bar, was damit leicht­fer­tig, ver­mut­lich höchst unbe­wusst ange­rich­tet wird, wenn diese Mög­lich­kei­ten an elek­tro­ni­sche Geräte abge­ge­ben wer­den. Die Welt braucht diese Mög­lich­kei­ten mehr denn je, und wir Men­schen erst recht.

Im Kep­ler Salon erwar­ten Sie im vier­ten Quar­tal „sin­gende Mäuse und quiet­schende Ele­fan­ten“ oder die Frage, wie wir die Ener­gie­wende schaf­fen kön­nen. Chris­tine Hai­den bringt mit „Drei Bücher klü­ger“ ein neues For­mat in den Kep­ler Salon: Drei Gäste stel­len je ein Buch vor, das sie in jüngs­ter Zeit klü­ger gemacht hat. Sie kön­nen mit dem Inhalt über­ein­stim­men oder ihn gänz­lich ableh­nen, jeden­falls hat er sie aber ange­regt, über etwas nach­zu­den­ken. Und neben vie­len ande­rem, auf das es sich zu kon­zen­trie­ren lohnt, wol­len wir den 450. Geburts­tag von Johan­nes Kep­ler fei­ern. Unser Namens­pa­tron und pro­mi­nen­ter Vor­mie­ter in der Rat­haus­gasse 5 fei­ert am 27. Dezem­ber sei­nen 450. Geburts­tag, daher wol­len wir ihm alle Mon­tag­abende im Dezem­ber wid­men, nicht aber vor­ran­gig in dem Sinne, ihm und sei­nem Werk unmit­tel­bar auf der Spur zu sein, son­dern vor allem wie wir als Men­schen des 21. Jahr­hun­derts mit sei­nem Leben, Wis­sen und sei­ner Hal­tung in Reso­nanz gehen.

Von Norbert Tragwöger
Kepler Salon Ausgabe 3/2021

Die Schatten der Vergan­gen­heit belichten

Big Band-​Signation. Die Umge­bung anfangs noch unscharf. Ein älte­rer Herr. Mit dem nächs­ten Schnitt dann deut­li­cher sein musik­be­glei­te­ter Auf­tritt über eine kleine Gar­ten­brü­cke. Ein Film­star? Die Bil­der sind wohl­über­legt zusam­men­ge­fügt. Som­mer­an­zug, Kra­watte, die Pfeife läs­sig und doch straff im rech­ten Mund­win­kel. Man wähnt sich im Vor­spann eines Samstagnachmittags-​Films, wäre da nicht die Blende mit dem Wort­laut „Frost on Fri­day“. Der bri­ti­sche Jour­na­list und Fern­seh­mo­de­ra­tor David Frost mode­riert: „Bal­dur von Schi­rach, foun­der mem­ber of the inner court of Adolf Hit­ler is alive and well […].“ Zur wei­te­ren Beschrei­bung als „lea­der of the Hit­ler Youth“ die Bil­der eines zar­ten Griffs von Män­ner­hand in fri­sches Blät­ter­werk. Ein Kind und ein Hund in der Szene; Lächeln im Gentleman-​Gesicht, Abgang mit dem Kind an der Hand. Som­mer­in­sze­nie­rung. Der liebe Junge könnte einer der Enkel­söhne Bal­dur von Schirachs sein, viel­leicht der jün­gere von den bei­den? Das wäre dann der 1964 gebo­rene Fer­di­nand von Schi­rach, der spä­tere Autor von Titeln wie „Ver­bre­chen“, „Schuld“, „Tabu“, „Strafe“.

1966 nach 20-​jähriger Haft aus dem Kriegs­ver­bre­cher­ge­fäng­nis Span­dau ent­las­sen, gab Bal­dur von Schi­rach, ehe­mals „Reichs­ju­gend­füh­rer“ sowie „Gau­lei­ter“ und „Reichs­statt­hal­ter“ von Wien, im Sep­tem­ber 1968 ein gro­ßes TV-​Interview. Dies zu sehen, ist befremd­lich; weich, fast sin­gend die ers­ten Worte Schirachs zu Adolf Hit­ler: „I met him in the opera.“ Von Schärfe sein Blick, manch­mal ein Lächeln um die schma­len Lip­pen. Die Erin­ne­rung an Hit­lers „cer­tain shy­ness“ holt immer noch einen Glanz in die viel­wis­sen­den Augen, die Herrn Frost beteu­ern wol­len, von der Depor­ta­tion der Wie­ner Juden nichts gewusst zu haben. Gestand Schi­rach bei den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen noch geschickt seine Schuld, so machte er hier dem Inter­viewer weiß, vie­les von der Kata­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts eben nicht gewusst zu haben. Dass Frost Schirachs Schmei­cheln ver­fällt, erschließt sich über das 40-​minütige Inter­view, wel­ches auf You­Tube nach­zu­se­hen ist.

Seit Februar 2021 führt der Kep­ler Salon eine Reihe unter dem Titel „Wag­ners Dun­kel­kam­mer“. Es ist letzt­lich nicht meine „Dun­kel­kam­mer“, die an die Ober­flä­che brin­gen soll, was bis dato nicht gese­hen, nicht bekannt, nicht gewusst oder zu wenig gese­hen, zu wenig bekannt und zu wenig gewusst war und ist. Es ist die „Dun­kel­kam­mer“ mei­ner Gäste, denn sie stel­len neu­este For­schungs­er­geb­nisse dar oder schär­fen die Kon­tu­ren vor­han­de­ner Bil­der nach. Mit sei­nen Erkennt­nis­sen zu Bal­dur von Schi­rach war der His­to­ri­ker Oli­ver Rath­kolb (Wien) unter dem Titel „Schi­rach. Eine Genera­tion zwi­schen Goe­the und Hit­ler“ der erste Gast der „Dun­kel­kam­mer“. In den Vor­be­rei­tun­gen für diese Ver­an­stal­tung sah ich David Frosts Inter­view. In meh­re­ren Anläu­fen, denn die Erschei­nung die­ses Herrn mit den nivel­lie­ren­den Erzäh­lun­gen zur Ver­bre­chens­ge­schichte der Nazis rüt­telte in mir immer wie­der den Impuls auf, den YouTube-​Kanal sofort aus­zu­schal­ten. „Neu“ ist die­ses Inter­view nicht, doch so wie Rath­kolb meint, ist es ein „Schlüs­sel­do­ku­ment“ zu einem der füh­ren­den Köpfe der Nazi-​Eliten. Es lässt sich an die­ser Selbst­in­sze­nie­rung sehen, wie flüch­tig man die größ­ten Ver­bre­chen des 20. Jahr­hun­derts abtun kann, indem man adres­siert, dass nie­mand von uns unfehl­bar sei und wir alle „nur“ Men­schen seien. Dies wirft uns auf uns sel­ber zurück und lässt uns in den eige­nen Unzu­läng­lich­kei­ten hän­gen blei­ben. Oder auch nicht. Ein plat­ter Trick des Herrn Schi­rach.

Nicht als eine Per­son der ver­ur­teil­ten Täter­ebene wurde der Kom­po­nist Johann Nepo­muk David in der mit „Brenn­punkt Leip­zig“ bezeich­ne­ten zwei­ten „Dun­kel­kam­mer“ dis­ku­tiert, son­dern als Kul­tur­re­prä­sen­tant im NS-​Staat, des­sen Nähe und Distanz zum Regime dif­fe­ren­ziert aus­ge­lo­tet wer­den sollte. Ober­ös­ter­reich zeigt sich stolz auf den in Efer­ding gebo­re­nen Kom­po­nis­ten – zu Recht, mit Blick auf des­sen umfang­rei­ches Wir­ken und Schaf­fen. Davids Zeit in Leip­zig wird jedoch gerade in Ober­ös­ter­reich immer wie­der aus­ge­klam­mert, nur pro forma dis­ku­tiert oder pau­schal abge­ar­bei­tet. Dies scha­det mehr, als es nützt – sowohl dem Kom­po­nis­ten als auch der Musik­ge­schichts­schrei­bung. Von 1934 bis 1945 wirkte Johann Nepo­muk David als Leh­rer am Lan­des­kon­ser­va­to­rium in Leip­zig, das 1941 zur „Staat­li­chen Hoch­schule für Musik, Musik­erzie­hung und dar­stel­lende Kunst“ erho­ben wurde. 1942 über­nahm er dort die „kom­mis­sa­ri­sche Direk­tion“ und somit die Lei­tung einer kul­tur­bil­den­den Insti­tu­tion im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land. Der Musik­wis­sen­schaf­ter Albrecht Düm­ling (Ber­lin), die Musik­wis­sen­schaf­te­rin Maren Goltz (Leip­zig) und Mat­thias Wam­ser (Basel) als Ver­tre­ter der Inter­na­tio­na­len Johann-​Nepomuk-David-Gesellschaft mach­ten die „David-​Dunkelkammer“ zur Infor­ma­ti­ons­quelle ers­ten Ran­ges. Gro­ßes Inter­esse kam Davids Kom­po­si­tion „Hel­de­n­eh­rung, Motette nach einem Füh­rer­wort“ für vier­stim­mig gemisch­ten Chor und drei Posau­nen aus 1942 zu. Das Stück ist den gefal­le­nen Leh­ren­den und Stu­die­ren­den der Staat­li­chen Musik­hoch­schule zum Gedächt­nis gewid­met und wurde 1942 in der pseu­do­sa­kra­len Krypta des Völ­ker­schlacht­denk­mals in Leip­zig urauf­ge­führt. Das Auto­graph der „Hel­de­n­eh­rung“ liegt in einem Pri­vat­ar­chiv in Stutt­gart und ist der For­schung lei­der nicht zugäng­lich. Allein die Zei­tungs­be­richt­erstat­tung zur Urauf­füh­rung lässt Rück­schlüsse auf die Mach­art die­ser affir­ma­ti­ven Musik zu.

Inwie­weit pri­vate Zufalls­funde und der For­schung zugäng­lich gemachte Quel­len­stü­cke das Ent­ste­hen einer Bio­gra­phie for­cie­ren, zeigt sich an einem Bün­del von 31 Brie­fen, wel­che über hun­dert Jahre lang unent­deckt auf einem Dach­bo­den lagen. Die Briefe und der erste Teil der hand­schrift­li­chen Urfas­sung der Erin­ne­run­gen August Kubi­zeks an des­sen Jugend­freund Adolf Hit­ler ver­an­lass­ten den His­to­ri­ker Roman Sand­gru­ber (JKU Linz) zum Ver­fas­sen einer Bio­gra­phie zum k. k. Zoll­amts­ober­of­fi­zial Alois Hit­ler, den Urhe­ber die­ser an den Stra­ßen­meis­ter Josef Rad­leg­ger gerich­te­ten Briefe. Pri­mär geht es in den Kor­re­spon­den­zen um den Kauf eines Anwe­sens für die Fami­lie Hit­ler, die Zei­len ent­hül­len jedoch auch bis dato unbe­kannte Details zur Geschichte von Adolf Hit­lers Her­kunfts­fa­mi­lie. Die Ent­de­ckung der Kubizek-​Frühfassung ist ein Wurf, sie stellt eine bedeu­tende Linie zur Rekon­struk­tion der Lin­zer Zeit des Dik­ta­tors dar. „Hit­lers Vater. Wie der Sohn zum Dik­ta­tor wurde“ titelte die dritte „Dun­kel­kam­mer“. Aus­ge­hend von Alois Hit­ler rollte Sand­gru­ber die Vater-​Sohn-Beziehung und das Her­an­wach­sen jenes Men­schen auf, über den ein smar­ter Herr 1968 lächelnd meinte, er wäre ein wenig schüch­tern gewe­sen. Dass diese Per­son für den Tod von Zig­mil­lio­nen Men­schen ver­ant­wort­lich ist, hat die­ses Lächeln absor­biert.

„Wag­ners Dun­kel­kam­mer“ wird auch in Zukunft bewe­gen. Ihre Gren­zen wer­den erkenn­bar, wenn die her­vor­ge­hol­ten Fak­ten begin­nen, sich im Kreis zu dre­hen, und Fra­gen nach ethi­schen Ein­schät­zun­gen dring­lich wer­den. So wäre doch der „Dun­kel­kam­mer“ gut­ge­tan, jenen Kna­ben als Seis­mo­gra­phen unse­rer Zeit mit einem die Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart ver­schrän­ken­den Blick ein­zu­la­den, der 1968 an der Hand sei­nes ele­gan­ten Groß­va­ters an einem Som­mer­nach­mit­tag in ein Haus ging. Sofern dies wirk­lich der junge Fer­di­nand von Schi­rach war. Der Jurist und Schrift­stel­ler blitzt in mei­nem Kopf als Wunsch­gast auf. Mit ihm würde ich gerne eine Meta­ebene frei­le­gen zur Dis­kus­sion, wie denn in der „Dun­kel­kam­mer“ ent­lang all die­ser Fra­gen über­haupt zu dis­ku­tie­ren sei. Ein Dis­kurs mit Fer­di­nand von Schi­rach über den Dis­kurs zur Ver­gan­gen­heit. Ein mög­li­cher Aus­blick.

Von Karin Wagner
Ein Bild von Zoe Goldstein.
Eine Innenaufnahme des Kepler Salons.
Kepler Salon Ausgabe 2/2021

Sag, wie hast du’s mit der Iden­tität?

Es ist so ein­fach wie trendy, Iden­ti­täts­po­li­tik für das Ver­sa­gen lin­ker Poli­tik ver­ant­wort­lich und sich im glei­chen Atem­zug dar­über lus­tig zu machen. Statt mit Macht-​ und Ver­tei­lungs­fra­gen beschäf­tige man sich nun mit Gen­der­stern­chen und Unisex-​Toiletten. Pro­mi­nente Kri­ti­ker*innen wie Fran­cis Fuku­yama, Sla­voj Žižek und zuletzt Sahra Wagen­knecht gehen sogar so weit, der Iden­ti­täts­po­li­tik das Erstar­ken rechts­po­pu­lis­ti­scher Strö­mun­gen anzu­krei­den: Statt sich um öko­no­misch Aus­ge­beu­tete zu sor­gen, kon­zen­triere man sich auf die Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen immer klei­ne­rer sozia­ler Grup­pen und ver­liere das große Ganze aus den Augen. Statt uni­ver­sa­lis­tisch und ver­ei­ni­gend zu agie­ren, würde man so erst recht zu gesell­schaft­li­cher Spal­tung bei­tra­gen.

Die­ser Vor­wurf stimmt dann, wenn Iden­ti­tät als fun­da­men­tal und essen­tia­lis­tisch ver­stan­den wird und in wei­te­rer Folge die dar­aus resul­tie­rende Gruppe als homo­gen. Soziale Iden­ti­tä­ten sind aber eben nicht unbe­weg­lich und exklu­siv und ent­sprin­gen auch nicht einer homo­ge­nen „Essenz“ unse­res Wesens, das schon immer war und auch in Zukunft immer so sein wird. Viel­mehr gilt es, Iden­ti­tä­ten als kon­text­ab­hän­gig, inter­sek­tio­nal und – zu einem hohen Grad, wenn auch nicht voll­stän­dig – wan­del­bar wahr­zu­neh­men. Die eigene Posi­tio­nie­rung als Mit­glied einer Reli­gi­ons­ge­mein­schaft bedeu­tet eben nicht, dass man nicht auch eine geschlecht­li­che, natio­nale, sexu­elle oder eth­ni­sche Iden­ti­tät hat, und dass diese unter­schied­li­chen Iden­ti­tä­ten nicht ab und an auch in Kon­flikt mit­ein­an­der ste­hen kön­nen. Ver­schie­dene Kon­texte akti­vie­ren bestimmte Grup­pen­zu­ge­hö­rig­kei­ten, wäh­rend sie andere in den Hin­ter­grund tre­ten las­sen. Poli­ti­sche For­de­run­gen aus der Zuge­hö­rig­keit zu einer Gruppe abzu­lei­ten, bedeu­tet auch nicht, dass aus der Iden­ti­tät als Frau oder als Homo­se­xu­elle zwin­gend bestimmte Merk­male, Hal­tun­gen oder Ein­stel­lun­gen fol­gen müs­sen. Wird diese Dyna­mik der sozia­len Posi­tio­nie­rung auf­grund der Rea­li­tät mul­ti­pler Zuge­hö­rig­kei­ten aus­ge­blen­det und Iden­ti­tät als sta­tisch, binär und gege­ben ange­se­hen, so grei­fen dar­auf auf­bau­ende poli­ti­sche For­de­run­gen in der Tat zu kurz.

Denn genauso wie Iden­ti­tät und Zuge­hö­rig­keit ist auch Soli­da­ri­tät nicht starr und kon­ti­nu­ier­lich. Eine viel­fäl­tige und sich immer rascher ver­än­dernde Gesell­schaft bringt auch ste­tig wech­selnde Soli­da­ri­tä­ten her­vor. Beim Aus­bruch der Corona-​Krise erlebte Öster­reich eine neue Soli­da­ri­tät mit älte­ren Men­schen – der etwas unglück­lich titu­lier­ten Risi­ko­gruppe. Das war in sei­ner kon­kre­ten Aus­for­mung doch erstaun­lich, bestimm­ten doch bis kurz vor Aus­bruch der Pan­de­mie hit­zige Debat­ten über Genera­tio­nen­kon­flikt, des­il­lu­sio­nierte „Millen­ni­als“ und pri­vi­le­gierte „Boo­mer“ den media­len Dis­kurs. Die­ses abrupt for­mierte Bewusst­sein für die Not­wen­dig­keit der Soli­da­ri­sie­rung aus einer fast kon­trä­ren Situa­tion her­aus ver­sinn­bild­licht, wie unstet und wech­sel­haft Soli­da­ri­tä­ten sein kön­nen.

Der Sozio­loge Jörg Fle­cker und seine Kol­leg*innen iden­ti­fi­zie­ren in Umkämpfte Soli­da­ri­tä­ten gar sie­ben ver­schie­dene For­men von Soli­da­ri­tät, von uni­ver­sel­ler Hil­fe­leis­tung bis hin zu mora­li­scher Ver­pflich­tung. Ihnen allen gemein ist Nähe als Grund­vor­aus­set­zung: Um soli­da­risch han­deln zu kön­nen, bedarf es einer ver­tie­fen­den Aus­ein­an­der­set­zung mit jenen, denen man seine Soli­da­ri­tät ange­dei­hen lässt. Des­halb ste­hen hin­ter ver­schie­de­nen Aus­for­mun­gen von Soli­da­ri­tät unter­schied­li­che Kate­go­rien des „Wir“: Wird Zuge­hö­rig­keit natio­nal defi­niert, also anhand der­sel­ben Staats­bür­ger­schaft, oder kul­tu­rell, also anhand der­sel­ben Abstam­mung? Sind es wir, die Leis­tungs­trä­ger*innen, oder wir, die aus dem­sel­ben sozia­len Milieu stam­men? Wir, die Frauen, oder wir, die Arbei­ter*innen? Je nach Situa­tion sind diese Kate­go­rien flie­ßend, sie ver­än­dern sich im Laufe der per­sön­li­chen Bio­gra­fie genauso wie nach sozia­lem Kon­text oder auf­grund gro­ßer glo­ba­ler Umwäl­zun­gen wie eben einer Pan­de­mie.

Aus die­sem Blick­win­kel betrach­tet ist Iden­ti­täts­po­li­tik alles andere als die banale Nabel­schau einer fehl­ge­lei­te­ten lin­ken Poli­tik. Wie wir unsere Zuge­hö­rig­kei­ten und dar­aus fol­gend unsere (wech­seln­den) Soli­da­ri­tä­ten defi­nie­ren, ist Grund­lage für poli­ti­sches Han­deln und poli­ti­sche For­de­run­gen. Mit wel­chem „Wir“ man sich iden­ti­fi­ziert, zu wel­chem man zuge­hö­rig sein will und kann, bedingt auch die inhalt­li­che Posi­tio­nie­rung. Nicht erst seit dem Jahr 2021 ist Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit ein bestim­men­des sozia­les Ele­ment. Das „Wir“, in das man ein- oder aus dem man aus­ge­schlos­sen wird, ent­schei­det über beruf­li­ches Vor­an­kom­men, Bil­dungs­chan­cen, Gesund­heit und Lebens­er­war­tung, Wohn­ver­hält­nisse und Über­le­bens­chan­cen in Zei­ten der Krise. Iden­ti­tät und mate­ri­el­les Inter­esse gehen Hand in Hand.

„Iden­ti­tät war immer schon“, kon­sta­tiert des­halb die Sozio­lo­gin Paula-​ Irene Villa Bras­lavsky und meint damit, dass seit der Moderne jede Form der poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung ein Ein­tre­ten für bestimmte soziale Grup­pen war. Die ver­meint­li­che Neu­tra­li­tät, die vor der neu­mo­di­schen Iden­ti­täts­po­li­tik geherrscht haben soll, gab es nie. Denn die wesent­li­che Frage, die hin­ter der Gestal­tung poli­ti­scher Maß­nah­men steht, ist, wer als die Norm für eben­diese gilt, und wer als seine Abwei­chung. Lange Zeit galt der Mann als das All­ge­mein­gül­tige, wäh­rend die Frau als das „andere Geschlecht“ und somit als außer­halb des All­ge­mei­nen defi­niert war, wie es Simone de Beau­voir in ihrem femi­nis­ti­schen Fun­da­men­tal­werk aus­drückte. Genau darin zeigt sich auch die Iro­nie der Kri­tik an Iden­ti­täts­po­li­tik: Tat­säch­lich geht es Strö­mun­gen wie dem Femi­nis­mus oder Anti­ras­sis­mus weni­ger um selek­tive Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen nach immer klei­ne­ren Zuge­hö­rig­kei­ten, son­dern darum, dass Grund­rechte wie Schutz vor Poli­zei­ge­walt, Recht auf Ehe und Fami­lie oder Gleich­be­hand­lung vor dem Gesetz all­ge­meine Gül­tig­keit erlan­gen, also tat­säch­lich für alle und nicht für eine bestimmte Iden­ti­tät (die bis­he­rige, eng gefasste Norm) gel­ten. Aus die­sem Grund sei Iden­ti­täts­po­li­tik auch bes­ser als „Poli­tik für Min­der­hei­ten“ zu bezeich­nen, wie der Poli­to­loge Jan-​Werner Mül­ler argu­men­tiert. Die Bewe­gun­gen, die nun ver­kürzt unter dem despek­tier­li­chen Ban­ner der „Iden­ti­täts­po­li­tik“ zusam­men­ge­fasst wer­den, eint also, dass sie für eine radi­kale Neu­de­fi­ni­tion des „Wir“ kämp­fen – weil es eben klare mate­ri­elle Vor­teile mit sich bringt, Teil davon zu sein. Für das „Wir“ gel­ten Grund­rechte, die für „die Ande­ren“ noch immer nicht selbst­ver­ständ­lich sind. Des­halb ver­su­chen Black Lives Mat­ter oder die Trans*Bewe­gung, indi­vi­du­elle Ver­wund­bar­keit all­ge­mein bewusst­zu­ma­chen, dar­aus resul­tie­rende Ver­let­zun­gen ernst zu neh­men und sie gleich­zei­tig zu mini­mie­ren, wie man es im Rück­griff auf Judith Shklars Libe­ra­lis­mus der Furcht for­mu­lie­ren könnte. Diese Ver­wund­bar­keit durch Gewalt oder Ungleich­be­hand­lung ist bedingt durch Aus­schluss aus dem „Wir“, das über die recht­li­che wie soziale Ord­nung bestimmt.

Die mit­un­ter schmerz­hafte Debatte um Iden­ti­tä­ten ist also des­halb so not­wen­dig und unum­gäng­lich, weil sie die radi­kale For­de­rung nach Über­win­dung von Aus­gren­zung bedeu­tet. Iden­ti­tä­ten blei­ben bestim­mend in einer Gesell­schaft, in der Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit die eigene Ver­wund­bar­keit oder eben Unver­sehrt­heit – kör­per­lich, öko­no­misch und poli­tisch – deter­mi­niert. Soziale Dif­fe­renz soll weder über­wun­den und negiert noch betont und feti­schi­siert wer­den. Sie soll nur uner­heb­lich für die Teil­habe am „Wir“ sein.

Von Judith Kohlenberger
Kepler Salon Ausgabe 1/2021

Hofrat Pachinger

Annä­he­run­gen an einen hyper­se­xu­el­len Samm­ler

Von Georg Thiel
Kepler Salon Ausgabe 1/2021

Es gilt die Unter­las­sungs­ver­mu­tung!

Feh­ler besit­zen die Eigen­tüm­lich­keit, sich ein­zu­schlei­chen. Feh­ler kön­nen sich ver­hee­rend, lebens­be­droh­lich, inspi­rie­rend, amü­sant oder völ­lig anders aus­wir­ken. Ich erin­nere mich, vor Jah­ren einen Text über ein Kon­zert mit Niko­laus Har­non­court und sei­nem „Con­cen­tus Musi­cus“ geschrie­ben zu haben. Tele­fo­nisch gab ich vor Druck­le­gung noch in brei­tem Ober­ös­ter­rei­chisch einen mir wich­tig erschei­nen­den und ver­ges­se­nen Halb­satz zu Mozarts „Ves­per“ durch. Am Tag dar­auf las ich in der Zei­tung von Mozarts Vespa. Was umso lus­ti­ger war, da ich in glei­chem Text und ande­rem Zusam­men­hang schon einen roten Fer­rari in Stel­lung gebracht hatte. Ich bin sicher, dass dem hoch­ge­schätz­ten Musi­ker in sei­nem rei­chen Künst­ler­le­ben nie­mals ein grö­ße­rer Fuhr­park an ita­lie­ni­schen Fahr­zeu­gen unter­stellt wor­den ist. Bis heute amü­siert mich die Aus­wir­kung mei­ner Mund­faul­heit mehr, als dass mir die offen­kun­dige Inkom­pe­tenz pein­lich ist.

Deut­lich spre­chen und nie­mals den Aus­laut unter­schät­zen waren die Lehr­in­halte. Manch­mal lernt man schnel­ler, als einem lieb ist. Gele­gen­heit macht Erfah­rung, die nur ernst genom­men wer­den muss, um wirk­sam zu wer­den. Sich sel­ber nicht immer zu ernst neh­men, aber ernst genug, hilft. Auch wenn diese Gabe bei dem einen oder ande­ren Mit­men­schen den Glau­ben her­vor­ruft, dass man nicht ernst zu neh­men sei. Gelacht wird nur über die Feh­ler ande­rer. Unter­schätzt zu wer­den ist nicht das Schlech­teste. Dadurch kann man sich oft unbe­hel­ligt sei­ner Sache wid­men und nicht den Erwar­tun­gen ande­rer. Es lebe die Sub­ver­sion!

Feh­ler pas­sie­ren und kön­nen gemacht wer­den. Ob man dabei eine aktive oder pas­sive Rolle ein­nimmt, ist weni­ger ent­schei­dend als die Wir­kung, die die Abwei­chung vom Rich­ti­gen bzw. dem, was für rich­tig gehal­ten wird, aus­löst. Wer macht bzw. lässt schon gerne Feh­ler gesche­hen? Wer dann sagt, ich ent­schul­dige mich, gibt sich unbe­wusst selbst­herr­lich und macht damit den nächs­ten Feh­ler, der meist aus Unwis­sen pas­siert. Sollte die Ent­schul­di­gung ernst gemeint sein, muss man darum bit­ten. Dies selbst­re­fle­xiv zu tun, zeugt viel­leicht davon, dass man mit sich selbst im Rei­nen sein will, aber bezieht in Wirk­lich­keit nie­man­den ein. Da ent­schul­digt man sich ein Leben lang und wird erst nach Jahr­zehn­ten auf­ge­klärt, dass dies andere für einen tun müs­sen. Ich bitte dafür um Ent­schul­di­gung, Ver­zei­hung oder Par­don. Unwis­sen schützt nicht vor Feh­lern!

„Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa – durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld“ habe ich in jun­gen Minis­tran­ten­ta­gen gelernt. Mit der Schuld ist es so eine Sache. Schon kramt man in der Lade, um gute Gründe für sei­nen Feh­ler zu fin­den. Gute Gründe sind nicht unbe­dingt wahre Gründe! Der Reflex im Wind­schat­ten eines Fehl­ver­hal­tens beför­dert oft eine über­bor­dende Krea­ti­vi­tät im Fin­den guter Gründe, eine wahre Schöp­fungs­wut im Erfin­den von Recht­fer­ti­gun­gen. Sich aus­re­den, ohne dabei eine Aus­rede fin­den zu wol­len, ist eine weit ver­brei­tete mensch­li­che Kunst­form. Die gestei­gerte Son­der­form ist, Behaup­tun­gen auf­zu­stel­len, die für sich ste­hen, aber jeder Grund­lage ent­beh­ren. Wer sich behaup­ten will, behaup­tet ein­fach, was das Zeug hält, und erhebt es damit zur unhin­ter­frag­ten Wahr­heit. Die Behaup­tung erhebt sich über alles.

Ande­ren die Schuld zu geben ist aller­dings ein Leich­tes, den Frem­den, den Impf­stoff­lie­fe­ran­tin­nen, denen, die Impf­stoff­reste weg­schmei­ßen woll­ten, den Ghost­wri­tern wis­sen­schaft­li­cher Arbei­ten oder denen mit man­geln­dem Erin­ne­rungs­ver­mö­gen, den Müt­tern, die ihre Kin­der so der­art unmensch­lich behan­deln, dass sie sich wün­schen, dass sie in einem siche­ren Land auf­wach­sen, den Nicht­mas­ken­trä­ger* innen, denen, die kei­nen Abstand hal­ten und keine Nähe suchen, denen, die hys­te­risch sind, Bill Gates, Donald Trump und den Tiro­lern (hier gen­dere ich bewusst nicht!), den Nicht­ver­schwö­rungs­prak­ti­kern, den Acht­lo­sen, denen, die das Wir ver­ach­ten und das Ich über alles stel­len … Alles, was recht ist, was für eine Lita­nei, dür­fen Sie gerne den­ken. Mit Recht und Gerech­tig­keit ist es so eine Sache! Und es rich­tig zu machen und ande­ren recht mit­un­ter ein Spa­gat, der nicht mach­bar ist.

Nicht sel­ten hört man vom gänz­li­chen Feh­len einer Feh­ler­kul­tur in unse­ren Brei­ten. Sind wir doch ehr­lich, wo Men­schen zugange sind, exis­tie­ren und pas­sie­ren unent­wegt Feh­ler. Wir leben in einer Feh­ler­kul­tur, nur die Fehlerumgangs-​ bzw. die Feh­ler­erkennt­nis­kul­tur ist sehr mar­gi­nal ent­wi­ckelt. Die Abwei­chung ist schlicht­weg not­wen­dig, um leben­dig zu sein, falsch-​ oder erst recht rich­tig­zu­lie­gen. Dabei rede ich noch gar nicht von krea­ti­ven Pro­zes­sen in Kunst oder For­schung. Fra­gen Sie bei Ein­stein, Curie oder Miles Davis nach, wohin sie ohne Feh­ler gelangt wären. Wenn nichts pas­siert, dann pas­siert nichts. Feh­ler sind ein ganz wesent­li­cher Bestand­teil des Treib­stoff­ge­mischs für Fort­schritt.

„Kei­nen Gedan­ken ver­schwende auf das Unab­än­der­bare“, schrieb Bert Brecht. Er hat recht, nicht sel­ten beschäf­ti­gen wir uns mit Din­gen, die ohne­hin nicht mehr zu ändern sind. Doch noch öfter kom­men wir gar nicht auf die Idee, eine haben zu kön­nen, um etwas zu ändern, für etwas aufund ein­zu­ste­hen. Wir machen den Feh­ler, erst gar nichts zu machen, weil wir gar zuschauen, weg­schauen, eh nichts machen kön­nen. Die Unter­las­sung ist eines der größ­ten Fel­der, auf dem wir Men­schen Feh­ler machen.

Dann tritt ein sieb­zehn­jäh­ri­ger Schul­spre­cher namens Theo Haas auf und nennt die Dinge unprä­ten­tiös und deut­lich beim Namen. Es kann nicht sein, dass sich jemand hin­ter dem Recht ver­steckt und sagt: „Wir han­deln doch nur, wie das Gesetz es vor­schreibt.“ Er sagt uns mit kla­rer, unauf­ge­reg­ter Stimme, dass er „Recht muss Recht blei­ben“ nicht mehr hören könne: „Wenn das Recht nicht für die Men­schen und Kin­der ist, muss es geän­dert wer­den. Das ist unsere Pflicht, auf­zu­ste­hen und zu sagen, das geht so nicht, alles andere ist ein Feh­ler.“

Ich denke an die in Linz gebo­rene Doro Blancke und ihre Flücht­lings­hilfe. „Egal, wo ich bin, ob in Öster­reich oder im Aus­land, ist es mir wich­tig, den Dia­log im Sinne der Men­schen auf der Flucht im Auge zu behal­ten und Unge­rech­tig­kei­ten und Men­schen­rechts­brü­che auf­zu­zei­gen. Ein gro­ßes Anlie­gen besteht auch darin, die bewusst geschür­ten Ängste vor dem ‚Frem­den‘ zu dezi­mie­ren“, liest man auf ihrer Web­site: Dafür sind Dia­log, Aus­tausch und das Ken­nen der Fak­ten von gro­ßer Bedeu­tung. Was sie letzt­end­lich immer wie­der antreibt, ist die Liebe zum Men­schen, ihr Glaube an die Gerech­tig­keit und das „Getra­gen­sein im WIR“. Theo Haas und Doro Blancke nenne ich hier stell­ver­tre­tend für viele Men­schen, die auf­ste­hen, die Dinge beim Namen nen­nen und nicht nur das Wort ergrei­fen. Ihre Cou­rage ersetzt nicht unsere eigene, aber ihr Mut erin­nert uns daran und ermu­tigt uns im bes­ten Fall, nicht den mensch­li­chen Kar­di­nal­feh­ler des Unter­las­sens zu bege­hen.

Die Frage ist, wel­che Feh­ler darf man sich erlau­ben und wel­che erlau­ben wir uns ein­fach. Ganz unbe­hel­ligt. Es gilt die Unter­las­sungs­ver­mu­tung!

Von Norbert Trawöger