Zur JKU Startseite
LIT Robopsychology Lab
Was ist das?

Institute, Schools und andere Einrichtungen oder Angebote haben einen Webauftritt mit eigenen Inhalten und Menüs.

Um die Navigation zu erleichtern, ist hier erkennbar, wo man sich gerade befindet.

Biologie und Robotik – Hand in Hand

Cyborgs sind keine Erfindung der Science-Fiction: Schon im alten Ägypten trug man Prothesen, Götz von Berlichingen wiederum soll mit eisernen Hand ein Schwert geführt haben, und heuer kommt sogar eine Barbie-Puppe mit Beinprothese auf den Markt.

Grafik: Envato

Seit mehr als 3.000 Jahren werden fehlende Körperteile durch Prothesen ersetzt. Diese lassen sich mittlerweile schon per Gedanken steuern. Damit das besser gelingt, haben Biomechatroniker der Johannes Kepler Universität Linz ein neues Sensorsystem entwickelt – ein Schritt zur weiteren Harmonisierung von Biologie und Robotik.

Die „hoch entwickelte Prothese“ zeuge „vom Geschick eines Kunsthandwerkers, der mit der menschlichen Physiognomie bestens vertraut war“. Dieser Befund beschreibt keine Hightech-Bionic- Kunst-Extremität, sondern jenen 3.000 Jahre alten künstlichen Zeh aus Holz, der mit einem Lederband am Fuß der Tochter eines Priesters im alten Ägypten befestigt war. Erstaunliche handwerkliche Präzision bescheinigten Baseler Forscher der wahrscheinlich ältesten Prothese, die aus dem frühen ersten Jahrtausend vor der Zeitenwende stammt und mehrmals überarbeitet wurde, um sie an den Fuß der Besitzerin anzupassen.

Kein technisches Wunderwerk war dagegen die Fußprothese eines vor rund 1.500 Jahren lebenden Mannes. Die Überreste davon – ein Holzbecher mit einem Eisenring – fanden Wissenschaftler des Österreichischen Archäologischen Instituts 2013 bei Ausgrabungen in seinem Grab am Hemmaberg in Kärnten. Erstaunlich dabei ist vielmehr, dass der Mann zur damaligen Zeit den Verlust seines Fußes oberhalb des Knöchels mehrere Jahre überlebt hat und die Prothese tatsächlich benutzte, was sich an seinen Knochen zeigte.

Tausend Jahre später ließ sich Götz von Berlichingen (1480–1562) nach dem Verlust seiner rechten Hand im Laufe der Zeit zwei Metallgliedmaßen anfertigen, denen hohe Funktionalität bescheinigt wird. Die „eisernen Hände“ des Ritters zählen zu den wohl bekanntesten Prothesen, ähnliche Behelfe waren im späten Mittelalter durchaus verbreitet. Ihre Finger konnten – mit Federkraft und Hilfe der anderen Hand – mechanisch bewegt werden. Der Legende nach soll er damit sowohl Federkiel als auch Schwert geführt haben.

Der Erste Weltkrieg mit seinen zahllosen Kriegsinvaliden führte zu einer enormen Nachfrage nach Ersatz-Gliedmaßen und löste damit einen technischen Entwicklungsschub aus. Berühmt wurde etwa der „Sauerbruch-Arm“, benannt nach dem deutschen Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (1875– 1951). Er operierte dazu einen Elfenbeinstift in die erhaltenen Oberarmmuskeln. Spannte man diese an, übertrug sich die so ausgelöste Bewegung des Stifts auf die Prothese, deren Hand sich so öffnen und schließen ließ.

Solche körperbetätigten Prothesen waren lange Zeit letzter Stand der Technik. Neben Implantaten wie beim „Sauerbruch-Arm“ gab es auch Seilzüge und Zuggurten zur Steuerung durch Bewegung verbliebener Körperteile, etwa der Schulter.

In den 1960er Jahren kamen dann die ersten myoelektrischen Prothesen auf. Sie nutzen jene elektrischen Signale, die entstehen, wenn Muskeln angespannt werden. Diese Impulse lassen sich auf der Haut messen, werden von Elektroden im Prothesenschaft erfasst und umgewandelt, um Elektromotoren zu steuern. So kann man etwa durch das Anspannen eines bestimmten Muskels eine Armprothese dazu bringen, die künstlichen Finger zu schließen.

Die Fortschritte auf diesem Gebiet sind rasant; etablierte Unternehmen und Start-ups weltweit wollen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sowie die Erkenntnisse aus Robotik und Bionik für die Entwicklung immer besserer und auch günstiger Prothesen nutzen.

Doch so einfach ist die Sache nicht. „Künstliche Intelligenz ist ein schönes, wichtiges Feld. Aber man darf nicht glauben, es reicht, irgendeine Hardware mit einem genialen Algorithmus zu kombinieren, und der holt mir alle wichtigen Informationen heraus“, erklärt Werner Baumgartner, Vorstand des Instituts für Medizin und Biomechatronik der Johannes Kepler Universität Linz gegenüber der „Kepler Tribune“. „Embodied intelligence“ heißt das Schlagwort – entscheidend ist das Gesamtsystem, eine optimierte Hardware soll es der nachfolgenden Software leichter machen.

An beiden „Schrauben“ – der Hard- und der Software – hat Baumgartners Dissertantin Theresa Roland gedreht: Die Biomechatronikerin hat ein neues Sensorsystem für myoelektrisch gesteuerte Prothesen entwickelt, das im Vergleich zu derzeit eingesetzten Elektroden weniger fehleranfällig und bequemer zu tragen ist.

Hintergrund der Entwicklung sind Schwächen der derzeit eingesetzten leitfähigen Elektroden. „Diese können erst das Muskelsignal auf der Haut erfassen, wenn ein Schweißfilm vorhanden ist, was gleich nach dem Anlegen der Prothese schlecht oder gar nicht funktioniert“, so Roland. Aber auch zu starkes Schwitzen kann zu Fehlfunktionen der leitfähigen Elektroden führen, ebenso, wenn diese verrutschen, bei starken Erschütterungen oder einem Handysignal.

Zudem sind die leitenden Sensoren starr und müssen fest auf die Haut gepresst werden. Das kann vor allem bei Menschen mit Durchblutungsstörungen Druckstellen verursachen. Die von Roland in Kooperation mit dem Unternehmen Otto Bock Healthcare Products in Wien entwickelten Sensoren sind dagegen flexibel, passen sich dem Körper und den Bewegungen an und sind damit deutlich bequemer zu tragen.

Die 28-jährige Forscherin, die Medizintechnik studiert hat und nun ihren Master und die Dissertation an der Johannes Kepler Universität Linz macht, setzte für ihr Sensorsystem auf ein völlig anderes Messprinzip. Sie hat sogenannte „kapazitive Sensoren“ entwickelt, die aus isolierendem und leitfähigem Material aufgebaut sind. Die Isolierschicht des Sensors liegt dabei auf der Haut selbst. Dadurch ist keine leitfähige Verbindung zum Körper, etwa ein Schweißfilm, mehr notwendig.

Roland hat die Sensoren physikalisch optimiert, also die Größen der kapazitivenFlächen, ihre Abstände und ihre Form. So gelingt es, Muskelsignale möglichst gut zu erfassen und Störungen kaum noch zu registrieren. „Das System wurde so gestaltet, dass es schnell funktioniert und der Patient keine Verzögerung zwischen Muskelsignal und Bewegung der Prothese bemerkt“, betont Baumgartner.

Schon in ihrem Masterstudium hat Roland zudem Algorithmen entwickelt, die besser zwischen dem Signal einer Muskelkontraktion und einem Störsignal unterscheiden können. Diese Algorithmen können nicht nur für die neuen kapazitiven Sensoren, sondern auch für die derzeit eingesetzten leitfähigen Elektroden genutzt werden. In einem weiteren Schritt hat Roland mittels Künstlicher Intelligenz Modelle trainiert, die zwischen Stör- und Nutzsignalen noch besser unterscheiden können.

Ein an gesunden Probanden getesteter Prototyp ist fertig, und die Sensoren wären einsetzbar, betonte die Forscherin. Ob und wie schnell ihre Entwicklung in die Anwendung kommt, lässt sich allerdings noch nicht abschätzen. „Die Markteinführung einer neuen Technologie kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen“, sagt auch Friedrich Russold von Otto Bock, „im Hinblick auf regulatorische Abläufe und die notwendigen Prüfungen der Effektivität im Alltag und die Herstellprozesse“.

Institutsvorstand Baumgartner sieht aber noch weiteres Potenzial für die kapazitiven Sensoren. Schließlich werden Biosignale bei vielen Anwendungen erfasst, sei es bei der Aufzeichnung der elektrischen Aktivitäten der Herzmuskel (EKG), der elektrischen Aktivität des Gehirns (EEG) oder der funktionalen Darstellung des Herzens. „Immer da, wo ich etwas länger beobachte, brauche ich trockene Elektroden“, erklärt der Mechatroniker. Das ist auch bei sogenannten Wearables der Fall. Das sind kleine Computersysteme, die am Körper getragen werden und bestimmte Körperfunktionen messen – eine Pulsuhr etwa. So könnte man mit kapazitiven Sensoren die Muskelaktivität beim Sport oder bei der Rehabilitation aufzeichnen.

„Ein Orthopäde sieht nach einer Operation einen Patienten üblicherweise nur kurz und bemerkt oft nicht, dass dieser bei bestimmten Bewegungen eine Schonhaltung einnimmt. Würde der Patient ein Kleidungsstück tragen, das einen Tag lang seine Bewegungen registriert, würde der Arzt sofort sehen, ob man schummelt“, bringt Baumgartner ein Beispiel.

Zurück zu den Prothesen: Werden diese bald so perfekt sein wie jene Kunsthände von Luke Skywalker im Star-Wars-Universum oder von Del Spooner, dem von Will Smith gespielten Polizisten im Film „I, Robot“? Können sie, gesteuert allein durch Gedanken, alle Bewegungen der menschlichen Hand ausführen, die mehr als zwei Dutzend Bewegungsmöglichkeiten hat?

Von der Mechanik her ist das wohl kein allzu großes Problem. Die Schwierigkeit liegt vielmehr in der Anbindung zwischen Mensch und Prothese, die Schnittstelle zwischen Biologie und Robotik ist limitiert.

„Oft steht man vor der Problematik, dass in der verbliebenen Extremität relativ wenig Muskulatur vorhanden ist für die myoelektrische Steuerung“, erklärt Christian Hofer vom Research Hub Vienna des Prothesen- Herstellers Otto Bock gegenüber der „Tribune“. Wurde etwa der Arm oberhalb des Ellbogens amputiert, stehen nur Bizeps und Trizeps – also zwei Signale – zur Verfügung. Um damit eine Prothese zu steuern, die ein Ellbogengelenk hat, eventuell ein rotierendes Handgelenk und eine Hand zum Öffnen und Schließen, muss man zwischen den einzelnen Funktionen umschalten, etwa durch Kokontraktion beider Muskeln. „Im Alltag ist das nur eingeschränkt praktikabel“, so Hofer.

Aus diesem Grund beginnt man seit einigen Jahren, Nerven chirurgisch umzuleiten, um die Gesamtzahl der Muskel-Steuersignale zu erhöhen. So kann etwa der Bizeps, ein zweiköpfiger Muskel, aufgespalten werden. Ein Teil wird unverändert belassen, der andere mit einem Nerv verbunden, der beispielsweise das Signal für das Schließen der Hand gibt.

Hier zeigt sich einmal mehr die Flexibilität der menschlichen Physiognomie. Studien belegen, dass die neu verbundenen Muskeln die Funktion jenes Muskels übernehmen, woher der Nerv ursprünglich stammt. Aber allein die Zahl der Signale zu erhöhen reicht nicht, um die Vision einer intuitiv gesteuerten Prothese, die alle Funktionen der Hand ersetzt, zu realisieren.

Denn es ist gar nicht so einfach, die vielen Signale exakt abzuleiten. Speziell bei eng zusammenliegenden Muskeln kann es passieren, dass die Steuerung der Prothese nicht mehr ganz eindeutig erfolgt. Mustererkennung sei hier eine Möglichkeit, um diese Problematik zu lösen, sagt Hofer.

Dabei werde etwa am Oberarm ein Ring mit mehreren Elektroden angebracht, um die gesamte Muskelaktivität in diesem Körperteil aufzunehmen. Die Elektroden müssen dabei gar nicht so exakt positioniert sein. Es geht vielmehr darum, Muster für die verschiedenen Bewegungen zu erkennen und einzulernen, um später im Alltag automatisch zu erfassen, welche Intention der Anwender hat.

Früher oder später, ist Hofer überzeugt, werde man aber zu implantierten Sensoren übergehen, um diverse Störungen, die unweigerlich bei der Signalerfassung auf der Haut entstehen, zu vermeiden. „Die Schnittstelle wird in den Körper verlegt.“ Dieses Motto gilt auch für eine völlig neue mechanische Anbindung von Prothesen an den Körper: „Osseointegration“ nennt sich die bei Zahnimplantaten erprobte Technik, bei der auf einen Titanstift der Zahnersatz geschraubt wird. So kann auch eine Prothese über ein mit dem Skelett verbundenes Implantat mit Hautdurchtritt nach außen direkt mit dem Körper verbunden werden. Auch dafür gibt es bereits erste Anwendungen.

Bleibt noch ein großes Thema: die fühlende Prothese, die Rückmeldungen zum Körper gibt. Ein Armprothesenträger spürt nicht, wie fest man zugreift, und ist immer auf die optische Rückmeldung angewiesen. Eine Kraftrückmeldung wäre hier sehr hilfreich im Alltag. Das könnte etwa durch Aktuatoren im Prothesenschaft erfolgen, ähnlich den kleinen Vibrationsmotoren im Handy. In Zukunft könnten es auch implantierte Stimulatoren sein, die afferente Nerven aktivieren, die dann die Information zum Gehirn zurückleiten.

Das österreichische Medizintechnik-Unternehmen „Saphenus“ hat erst kürzlich einen Sensorschuh für Beinprothesen vorgestellt. Vier Sensoren im Schuh übertragen dabei Informationen an vier Aktuatoren im Prothesenschaft. Durch das „Spüren“ des Untergrunds soll nicht nur die Sicherheit beim Gehen mit der Prothese erhöht werden. Das System kann auch Phantomschmerzen lindern, wie Patienten berichteten, die den Sensorschuh bereits nutzen.

Es war ein weiter Weg vom altägyptischen Holzzeh zur direkt mit dem Körper verbundenen fühlenden Bionik- Kunsthand – ein Weg vieler kleiner Schritte, der noch lange nicht zu Ende ist. Angetrieben wird die Entwicklung vom Wunsch, den Verlust eines Körperteils möglichst gut zu kompensieren.