Die minimal-invasive Chirurgie (Minimal Invasive Surgery, MIS) ist die bedeutendste Veränderung der jüngeren Geschichte der Medizintechnik und der Chirurgie insgesamt. Das JKU-Institut für Pervasive Computing unter Leitung von Univ.-Prof. Alois Ferscha nimmt dabei - gemeinsam mit renommierten Kooperationspartnern - eine Vorreiterrolle ein.
Suboptimale minimal-invasive chirurgische Eingriffe korrelieren evident mit der kognitiven Last bzw. dem Grad an aufgebrachter Aufmerksamkeit des Chirurgen während des chirurgischen Eingriffs und dem Ablenkungspotential disruptiver Signale aus der Umgebung. Eine besondere Herausforderung ist weiters die Augen-Hand-Koordination bei der Bedienung komplexer endoskopischer Apparaturen.
Im Forschungsprojekt MinIAttention adressieren das JKU Institut für Pervasive Computing (Projektkoordinator: Univ.-Prof. Dr. Alois Ferscha) und das Kepler Universitätsklinikum mit internationalen PartnerInnen das grundlegende Problem der kognitiven Belastbarkeit von Chirurgen, konkret der menschlichen Aufmerksamkeit im Kontext der minimal-invasiven Chirurgie. Das Vorhaben zielt auf die Entwicklung von belastungs- und aufmerksamkeitssensitiven Gestaltungsprinzipien für zukünftige Medizintechnik im minimal-invasiven Operationssaal der Zukunft ab. Endoskope der Zukunft sollen zu aufmerksamkeitsgeleiteten Assistenten des Chirurgen werden.
MinIAttention zielt auf Theoriebildung und Entwicklung formaler Modelle der menschlichen Aufmerksamkeit auf der Basis von in der kognitiven Psychologie etablierten Aufmerksamkeits-Theorien (Capacity Theory, Multiple Resource Theory, Feature Integration Theory) und den jeweilig zugeordneten Aufmerksamkeit-Modellen (Kahneman, Broadbent, Wickens) ab. Die angestrebten Aufmerksamkeitsmodelle werden mit Referenzimplementierungen von Machine Learning Systemen, basierend auf Blickverfolgungssensoren, Körperhaltungs- und Bewegungssensoren und in die Kleidung des Chirurgen integrierte Positions-, Beschleunigungs- und Orientierungs-sensoren validiert.
Fünf Arbeitsgruppen kollaborieren an MinIAttention. Das Institut für Pervasive Computing der Johannes Kepler Universität Linz (JKU IPC), welches aufmerksamkeitssensitive IT-Systeme initiativ sowohl in der Scientific Community als auch in der thematischen Schwerpunktbildung zum Europäischen Rahmenprogramm H2020 propagiert hat, und erste Ergebnisse in einer dieses Projektvorhaben vorbereitenden Studie (Sensorbasiertes Monitoring von 7 laparoskopischen chirurgischen Eingriffen) in Kooperation mit dem Kepler Universitätsklinikum Linz (speziell dem ehemaligen AKh) entwickelt hat. Das IPC war in der jüngsten Vergangenheit Rahmen von EU Projekten in enger Kooperation mit den Partnern SUSSEX (University of Sussex) und FRI (Universität Freiburg), womit Grundlagen für MinIAttention im Bereich Pattern Recognition und Machine Learning sowie Contex-, Activity- und Vital State Recognition vorbereitend entwickelt werden konnten. In Kooperation mit einem der weltführenden HerstellerInnen minimal-invasiver Medizintechnik, Karl STORZ ENDOSKOPE, wird MinIAttention als der Grundstein für die Etablierung eines „European Instrumentation and Qualification Center for Laparoscopic Surgery“ verstanden, welches zugleich auch ein strategisches Vorhaben der neugegründeten Medizinischen Fakultät der Johannes Kepler Universität Linz darstellt.
Am 25. Februar fand das Kick-off Meeting aller ProjektpartnerInnen des von der FFG im Programm BRIDGE Frühphase geförderten Forschungsprojektes am Institut für Pervasive Computing der JKU statt. Christoph Hiltl, Vertreter des Partners Karl Storz Endoskope, verweist auf die historische Pionierrolle der 1945 in Tuttlingen gegründeten Unternehmung hin, die heute mehr als 8.000 MitarbeiterInnen im Bereich der Medizintechnik beschäftigt, und betont: „Wir waren und sind der Technologieführer im Bereich starrer Endoskopie weltweit - die laparoskopische Gallenblasenoperation im Jahr 1987 mit unserem System stellt den Grundstein der heutigen mimimal-invasiven Chirurgie dar. Die Herangehensweise des Instituts für Pervasive Computing an eine neue Generation Medizintechnik trifft genau den Pioniergeist von Storz“. Prof. Andreas Shamiyeh, Spitzenchirurg am KUK leistet mehr als 400 laparoskopische Eingriffe pro Jahr und meint: „Wenn ich im OP stehe gibt es für mich nur ein Ziel – die PatientInnen bestmöglich zu versorgen und frühestmöglich entlassen zu können.“ Er verweist darauf, dass komplexe, umständlich zu bedienende Medizintechnik im OP keinen Platz hat. „Mit MInIAttention machen wir einen Vorstoß in eine völlig neue Richtung der Endoskop-Technik, die ChirurgInnen zu ChirurgInnen und nicht zu GerätebedienerInnen macht.“ Prof. Daniel Roggen vom Sensor Technology Research Center der Universität Sussex, Langzeitkooperationspartner des Instituts für Pervasive Computing in vielen EU-Projekten, sieht eine „herausragende Chance, den OP der Zukunft mit neuer Sensorik zu einem ,intelligenten‘ OP zu machen, der das Attribut auch verdient.“ Kristof van Laerhoven, Professor für Embedded Systems an der Universität Freiburg und Experte im Bereich des Langzeit-Biosignalmonitorings, bestätigt aus seiner Forschung, dass „aufmerksamkeitsdominierende IT wie Bildschirme, Tastaturen etc. im OP keine Akzeptanz findet“.
Prof. Alois Ferscha, Leiter des Instituts für Pervasive Computing an der JKU und Initiator und Koordinator des MinIAttention Projektes meint, dass „wir hier nicht nur die äußerst schwierige Forschungsfrage der Einschätzung des Aufmerksamkeits-niveaus einer hochgradig kognitiv belasteten Person in Echtzeit aufgegriffen haben“, sondern „eine neue Medizintechnik mit ,eingebetteter Intelligenz‘ demonstrieren möchten, die aus dem Hintergrund heraus beobachtet, analysiert, Hilfestellungen und Empfehlungen ableitet“ und nur dann auf den Chirurgen zurückwirkt, wenn das in der Situation notwendig ist – „Medizintechnik ,die mitdenkt‘, wenn Sie so möchten!“
Die erwarteten Ergebnisse sind von „grundlegender Bedeutung für die Gestaltung von IT-Systemen der Zukunft per se“, meint Ferscha, da die menschliche Aufmerksamkeit in einer Informationsgesellschaft mit einer exponentiell steigenden Informationsflut als „knappes Gut“ betrachtet werden muss, mit dem IT-Systeme schonend und respektvoll umzugehen haben.