Neuvermessung des Refoulementverbots der EMRK
Projektleitung:
- Univ.-Ass. Dr. Manuel Neusiedler,
Institut für Staatsrecht und Politische Wissenschaften, Abteilung für Prozessrecht und Grundrechtsschutz - Univ.-Prof. Dr. David Leeb,
Institut für Staatsrecht und Politische Wissenschaften, Abteilung für Prozessrecht und Grundrechtsschutz
Nach dem Ende der 1980er-Jahre erstmals vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) postulierten Refoulementverbot untersagt die EMRK Auslieferungen, sonstige Außerlandesschaffungen oder Zurückweisungen von Personen – sogar an bzw in Nichtvertragsstaaten –, sofern den Betroffenen im Zielstaat der Tod bzw Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung droht. Dieses aus Art 2 und 3 EMRK bzw Art 1 6. ZPEMRK und Art 1 13. ZPEMRK abgeleitete, „klassische“ Refoulementverbot hat der EGMR in seiner sogenannten “flagrant denial“-Rechtsprechung erweitert und nimmt nunmehr an, dass auch andere Konventionsgarantien einen vergleichbaren Schutz vor Aufenthaltsbeendigung (bzw Zurückweisung) bieten. Droht der betreffenden Person im Zielstaat eine schwerwiegende Verletzung insbesondere der nach Art 5 und 6 EMRK geschützten Rechtsgüter (persönliche Freiheit und faires Verfahren), wäre eine dennoch vorgenommene Außerlandesbringung oder Zurückweisung konventionswidrig.
Diese Judikatur und damit das Refoulementverbot abseits seiner „herkömmlichen“ Grenzen haben in der österreichischen Literatur und Praxis bislang kaum Beachtung gefunden. Einzig im Auslieferungsrecht scheint ein Verbot der Auslieferung von Straftäter*innen anerkannt, wenn ihnen im ersuchenden Staat gravierende Verletzungen der von Art 6 EMRK geschützten Verfahrensgarantien drohen. Unser Forschungsprojekt soll ergründen, inwieweit die österreichische (Auslieferungs- und Fremden‑)Rechtsordnung den vom EGMR in seiner “flagrant denial“-Rechtsprechung postulierten Konventionsvorgaben Rechnung trägt bzw umgekehrt Handlungsbedarf für den Gesetzgeber besteht.
Die Beantwortung dieser Forschungsfrage setzt zunächst eine fundierte Analyse der erwähnten Rechtsprechung voraus, um die einschlägigen Konventionsvorgaben, aber auch ihre Grenzen – insbesondere wird zu untersuchen sein, welche Konventionsgarantien (mit Verfahrensbezug) überhaupt einen Refoulementschutz vermitteln und wie gravierend (“flagrant“) die drohenden Einwirkungen auf die geschützten Rechtsgüter hiezu sein müssen – identifizieren zu können. Anschließend wird die Frage der Relevanz der gegenständlichen Rechtsprechung auf dem Boden des Unionsrechts, namentlich der GRC, zu stellen sein. Das Kohärenzprinzip ihres Art 52 Abs 3 könnte eine Übertragung der “flagrant denial“-Rechtsprechung auf die korrespondierenden Chartagarantien gebieten – freilich nur, wenn der Anwendungsbereich der GRC eröffnet ist.
Die von uns beabsichtigte, umfassende Auseinandersetzung mit dem im Lichte der “flagrant denial“-Rechtsprechung ausgeweiteten Refoulementverbot kann durch öffentlichrechtliche Überlegungen im engeren Sinn allein nicht gelingen, sondern erfordert die Einbeziehung unions- und strafrechtlicher (auslieferungsrechtlicher) Überlegungen. Insoweit wird unser Forschungsprojekt dankenswerterweise durch Vertreterinnen der Fächer Europarecht (Univ.‑Ass.in MMag.a Dr.in Ranjana Andrea Achleitner) und Strafrecht (Ass.‑Prof.in Dr.in Ingrid Mitgutsch, Univ.‑Ass.in Dr.in Lisa Schmollmüller) mitgestaltet.
Geplant ist ein von uns herausgegebener Sammelband, in welchem nach der Analyse der “flagrant denial“-Rechtsprechung des EGMR zunächst der Frage nach der Rezeption dieser Rechtsprechung im Unionsrecht nachgegangen wird. Anschließend wird der Stand der Umsetzung der einschlägigen Konventionsvorgaben (bzw unionsrechtlicher Vorgaben) in Österreich ergründet, wobei der Fokus einerseits auf dem Auslieferungsrecht und andererseits auf dem Fremden(polizei)recht liegt. Zusätzlich könnten die Ergebnisse unseres Forschungsprojekts im Rahmen einer Vortragsveranstaltung präsentiert werden.